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Stellung zur Umgebung drängen. Daraus resultieren Anspannungen und Steigerungen organisch gegebener Fähigkeiten, — c’est la guerre! — wie ich sie in der Arbeit über den „Aggressionstrieb“[1] beschrieben habe. In den zeitweiligen Entbehrungen und Unlustempfindungen, wie sie die ersten Kinderjahre mit sich bringen, ist der Anstoss zu suchen, der eine Anzahl allgemeiner Charakterzüge entwickelt. Vor allem lernt das Kind in seiner Schwäche und Hilfslosigeit, in seiner Angst und in seinen mannigfachen Unfähigkeiten ein Mittel schätzen, das ihm die Hilfe und Unterstützung seiner Angehörigen, ihr Interesse sichert. In seinem negativistischen Verhalten, in seinem Trotz und in seiner Unerziehbarkeit findet es oft eine Befriedigung seines Machtbewusstseins, und ist dadurch des quälenden Gefühls seiner Minderwertigkeit ledig geworden. Beide Hauptlinien des kindlichen Verhaltens, Trotz und Gehorsam,[2] garantieren dem Kinde eine Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls, helfen ihm, den Weg zum männlichen Endziel oder, wie wir vorwegnehmend sagen wollen, zu einem Äquivalent desselben tastend einzuschlagen. Bei konstitutionell minderwertigen Kindern wird das erwachende Persönlichkeitsgefühl stets herabgedrückt, ihre Selbsteinschätzung fällt geringer aus, weil ihre Befriedigungsmöglichkeit weitaus dürftiger ist. Man denke an die zahllosen Einschränkungen, Kuren, Schmerzen bei magendarmkranken Kindern, an die Verweichlichung und Verwöhnung der blassen, schwächlichen, an Minderwertigkeit des Atmungsapparates leidenden Kinder, an das Jucken und die Qualen bei Prurigo und anderen Exanthemen, an die vielen erniedrigenden Kindesfehler, an die Ansteckungsfurcht der Eltern solcher Kinder, die oft dahin führt, wohin auch die häufigen Störungen in der Erziehung, im Schulfortgang, und die Störrigkeit solcher Kinder öfters führt: zur Isolierung und zur Missliebigkeit bei Kameraden und innerhalb der Familie. In ähnlicher Weise schädigen das Selbstgefühl die rhachitische Plumpheit, angeborene Fettleibigkeit und geringere Grade von geistiger Zurückgebliebenheit. Meist hilft sich das Kind durch die Annahme einer Zurücksetzung, die es von den Eltern erfährt, wie sie besonders häufig bei späteren oder dem jüngsten der Kinder anzutreffen ist, zuweilen auch bei dem ersten.

Diese feindliche Aggression, gereizt und verstärkt bei konstitutionell minderwertigen Kindern, fliesst mit seinem Streben, so gross und stark zu werden wie der Stärkste, innig zusammen und kräftigt und hebt jene Regungen hervor, die dem kindlichen Ehrgeiz zugrunde liegen. Alle späteren Gedankengänge und Handlungen des Neurotikers zeigen sich im gleichen Aufbau, wie seine kindlichen Begehrungsvorstellungen. Die „Wiederkehr des Gleichen“ (Nietzsche) ist nirgends so gut wie beim Nervösen zu verstehen. Sein Minderwertigkeitsgefühl den Personen und Dingen gegenüber, seine Unsicherheit in der Welt drängen ihn zur Verstärkung der Leitlinien. An diese klammert er sich zeitlebens, um Sicherheit zu gewinnen, um sich in der Welt mittelst seines Glaubens und Aberglaubens zu orientieren, um seinem Gefühl der Minderwertigkeit zu entkommen, um sein Persönlichkeitsgefühl zu retten, um einen Vorwand zu haben, einer befürchteten Erniedrigung auszuweichen. Nie ist ihm dies alles so gelungen, wie in der Kindheit. Seine leitende


  1. Adler, Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose. l. c.
  2. Adler, Trotz und Gehorsam.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/23&oldid=- (Version vom 31.7.2018)