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wohnen. Diese Brücke zu schlagen ist die wichtigste Leistung des Kindes, da es sonst in der Fülle der einstürmenden Eindrücke ohne Sammlung, ohne Rat, ohne Führung stünde. Man kann dieses erste Stadium der erwachenden subjektiven Welt kaum recht abgrenzen oder in Worte fassen. Immerhin können wir sagen, das Leitbild des Kindes muss so beschaffen sein, als ob es dem Kinde grössere Sicherheit, Orientierung bringen könnte, indem es die Richtung seines Wollens beeinflusst. Sicherheit aber kann es nur gewinnen, wenn es auf einen fixen Punkt hinarbeitet, an dem es sich grösser, stärker, von den Mängeln früher Kindlichkeit befreit sieht. Die bildliche, analogische Art unseres Denkens bringt es mit sich, dass dieses zukünftige, veränderte Bild der eigenen Person in der Gestalt des Vaters, der Mutter, eines älteren Geschwisters, des Lehrers, einer Berufsperson, eines Helden, einer Tiergestalt, eines Gottes gedacht wird. Allen diesen leitenden Gestalten ist der Zug der Grösse, der Macht, des Wissens und Könnens gemeinsam, und so stellen sie samt und sonders Symbole dar für fiktive Abstraktionen. Und so wie der aus Lehm geschaffene Götze erhalten sie durch die menschliche Phantasie Kraft und Leben, und wirken zurück auf die Psyche, aus der sie geboren sind.

Dieser Kunstgriff des Denkens hätte das Gepräge der Paranoia und der Dementia praecox, die sich „feindliche Gewalten“ schaffen zur Sicherung des Persönlichkeitsgefühls, wenn nicht dem Kinde die Möglichkeit gegeben wäre, jederzeit aus dem Banne seiner Fiktion zu entweichen, seine Projektionen (Kant) aus der Rechnung zu streichen und bloss den Antrieb zu benützen, der aus dieser Hilfslinie fliesst. Seine Unsicherheit reicht hin, um phantastische Ziele zur Orientierung in der Welt aufzustellen, ist aber nicht so gross, um die Realität zu entwerten und das Leitbild zu dogmatisieren, wie es in der Psychose geschieht. Immerhin muss auf die Ähnlichkeit der Bedeutung der Unsicherheit und des Kunstgriffes der Fiktion beim Gesunden, Nervösen und Verrückten hingewiesen werden.

Das allgemein Menschliche an diesem Vorgange ist, dass das apperzipierende Gedächtnis unter die Macht der leitenden Fiktion gerät. Damit ist eine einheitliche Weltanschauung für alle innerhalb gewisser Grenzen gegeben. Die Kleinheit und Dürftigkeit des Kindes wird stets nach Erweiterung seiner Grenzen streben und diese dann nach dem Muster des Stärksten abstecken. Und nun erweist es sich im Laufe der psychischen Entwickelung, dass, was ursprünglich ein an sich imaginierender, nur im Zusammenhang wichtiger und wertvoller Kunstgriff war, ein Mittel, um Stellung nehmen, die Richtung finden, Griffe anbringen zu können, zum Zweck geworden ist, offenbar weil das Kind nur auf diesem Wege, nicht aber durch direkte Triebbefriedigung die Sicherheit des Handelns erlangen kann.[1]

Damit ist nun der wirksame Punkt ausserhalb der körperlichen Sphäre gefunden, nach dem sich die Psyche richtet, der Schwerpunkt des menschlichen Denkens, Fühlens und Wollens. Und der Mechanismus des apperzipierenden Gedächtnisses mit seiner Unsumme von Erfahrungen wandelt sich aus einem objektiv wirkenden


  1. Wie aus Karl Groos, Spiele der Tiere zu ersehen ist, ist auch das Verständnis der Tierseele darauf gegründet, dass wir es handeln sehen, als ob es einer fiktiven Richtungslinie folgen würde.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/39&oldid=- (Version vom 31.7.2018)