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Jede der abstrakten Leitlinien der Neurose und der ihnen zugrunde liegende psychische Mechanismus kann dem Bewusstsein in einem Erinnerungsbild zugänglich sein oder zugänglich gemacht werden. Dieses Bild kann aus dem Rest eines kindlichen Erlebnisses stammen, oder es ist ein Produkt der Phantasie, einer Erscheinungsform der Sicherungstendenz. Es kann ein Symbol, gleichsam eine Etikette für eine Reaktionsweise vorstellen, und wird zuweilen in einer späteren Zeit erst gebildet oder umgebildet, oft wenn die Neurose bereits entwickelt ist. Offenbar der Effekt einer Art von Denkökonomie, nach dem Prinzip des geringsten Kraftausmasses (Avenarius) gefertigt, ist es nie als Inhalt bedeutsam, sondern bloss als abstraktes Schema oder als Rest eines psychischen Geschehens, in dem sich ein Schicksal des Willens zur Macht einstmals erfüllte. Nie ist diese schematische Fiktion, mag sie sich noch so konkret geberden, anders als allegorisch aufzufassen. In ihr spiegelt sich ein realer Bestandteil der Erlebnisse samt einer „Moral“, und beide werden behufs Sicherheit des Handelns von der Erinnerung festgehalten, sei es als Memento, um die Leitlinie besser zu halten, sei es als Vorurteil, um nicht von ihr abzuweichen. Keines dieser Erinnerungsbilder hat je pathogen gewirkt, als psychisches Trauma etwa, sondern erst wenn die Neurose entsteht, wenn das Gefühl starker Herabsetzung des Persönlichkeitsgefühls zum männlichen Protest führt und damit zum engeren Anschluss an die längst gebildeten kompensatorischen Leitlinien, werden diese Erinnerungsbilder aus längst vergangenem Material hervorgeholt und kommen wegen ihrer Verwendbarkeit, das neurotische Verhalten teils zu ermöglichen, teils zu interpretieren, zur Geltung. Hierher gehören vor allem Schmerz-, Angst- und Affektbereitschaften, denen derartige Erinnerungen zugrunde liegen, die sich halluzinatorisch erfüllen können und optischen wie akustischen Halluzinationen gleichzusetzen sind. Begreiflicherweise werden es meist typische Erinnerungen sein, die der Leitlinie möglichst verwandt und nahegerückt sind, weil sie für den an der Leitlinie haftenden Neurotiker die kleinen und grossen Umwege repräsentieren oder anregen, die er einzuschlagen hat, um sein Persönlichkeitsgefühl höher zu bringen. Die neurotische Psyche charakterisiert sich bloss durch stärkeres Haften an der Leitlinie. Die Widersprüche mit der Realität erst, die daraus erwachsenden Konflikte, und die Nötigung, soziale Geltung und Macht zu erlangen, fördern die Symptome zutage. Noch deutlicher wird dies in der Psychose, wo die Leitlinie haarscharf hervortritt, und wo nur, sozusagen des Beweises wegen, Umdeutungen der Wirklichkeit vorgenommen werden und Demonstrationen erfolgen. In beiden Fällen benimmt sich der Kranke so, als ob er den Endzweck stets vor Augen hätte. Im Falle der Neurose übertreibt und bekämpft er die realen Hindernisse der Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls oder umgeht sie nach Schaffung von Vorwänden. Der fest an seine Idee (fixe Idee) geheftete Psychotiker versucht zugunsten seines irrealen Standpunktes die Wirklichkeit zu verändern oder zu übersehen. Der um die Aufdeckung der Symbolik in der Neurose und Psychose hochverdiente Forscher Freud hat auf die Fülle der Symbole aufmerksam gemacht. Leider ist er bloss bis zur Aufdeckung der in ihnen vorhandenen oder möglichen Sexualformel gelangt und hat ihre weitere Auflösung in das dynamische Geschehen des

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/48&oldid=- (Version vom 31.7.2018)