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Norm, des Friedens ist sie die formgebende Kraft, die eine Sperrung der Kampf- und Affektbereitschaften bewirkt und eine Angleichung der Charakterzüge an das Milieu. Steigt die Unsicherheit, und taucht das Gefühl der Minderwertigkeit auf, dann wird unter steigender Abstraktion von der Realität diese Gegenfiktion entwertet, die Bereitschaften werden mobilisiert, der nervöse, prinzipielle Charakter tritt hervor und mit ihm das übertriebene gesteigerte Persönlichkeitsideal. Es gehört mit zu den Triumphen des menschlichen Witzes, in Anpassung an die Gegenfiktion der leitenden Idee zum Durchbruch zu verhelfen, durch Bescheidenheit zu glänzen, durch Demut und Unterwerfung zu siegen, durch die eigene Tugend Andere zu demütigen, durch eigene Passivität Andere anzugreifen, durch eigenes Leid Anderen Schmerzen zuzufügen, mit weiblichen Mitteln ein männliches Ziel zu verfolgen, sich klein zu machen, um gross zu erscheinen. Solcher Art aber sind oft die Kunstgriffe der Neurotiker.

Über die Bedeutung der ursprünglichsten Wahrnehmung und Empfindung als einer Abstraktion brauche ich keine Worte zu verlieren. Ebenso abstrakt ist die Setzung eines fiktiven Leitpunktes und des nun zwischen diesen zwei Punkten ausgesponnenen Lebensplanes. Wir haben bezüglich der nervösen Psyche öfters hervorgehoben, dass die grössere Unsicherheit allein dazu zwingt, den Leitpunkt noch mehr der Realität zu entziehen, ihn höher anzubringen. Dazu kommt noch, dass die minderwertigen Sinnesorgane qualitativ und quantitativ veränderte Empfindungen, die ausführenden Erfolgsorgane veränderte Technizismen, meist im Sinne einer Einschränkung aufweisen, so dass sich die Selbsteinschätzung, das ideelle Leitbild, das Weltbild und der Lebensplan gegenüber der Norm in der Richtung vermehrter Abstraktion, vermehrten Verzichts auf Identität mit der Realität gestalten müssen. Dabei kann die Kompensation und Überkompensation freilich das Weltbild gelegentlich der Wirklichkeitslinie näher bringen, wie bei den grossen Leistungen der nervösen Psyche. Das überspannte Persönlichkeitsideal aber, das in starker Fixierung, in die Nähe einer Gottähnlichkeit gerückt, dem Wesen und Verhalten der Neurotiker und Psychotiker so oft einen leicht oder ausgesprochenen hypomanischen Zug verleiht, wenn nicht die Vorbereitung dazu, die Kleinheits-, die Verfolgungsideen noch den Ausschlag geben, verursacht durch eine Art innerer Gewissheit, ohne welche die Aufstellung des Zielpunktes unmöglich wäre, ein Prädestinationsgefühl. In den Phasen grösserer Unsicherheit wird dieses namhaft verstärkt, und seine Bedeutung als Antizipation der leitenden Fiktion, als Abschlagszahlung tritt deutlich hervor.

Den wertvollen Anteil dieser Kompensations- und Sicherungsleistung schildert Gustav Freytag in den „Erinnerungen aus meinem Leben“ folgendermassen:

„Aber auch die Treffer an der Scheibe wurden mir nicht leicht. Denn zu Oels hatte ich beim Unterricht bemerkt, dass ich sehr kurzsichtig war. Als ich das in den Ferien dem Vater klagte, riet er mir, mich doch ohne Brille durch die Welt zu schlagen, und erzählte mir von der Hilflosigkeit eines Theologen, der ihn einst am Morgen aus dem Bett angefleht hatte, ihm seine Brille zu suchen, damit er die Beinkleider finden könne. — Dem Rat blieb ich folgsam, ich habe nur im Theater und vor Bildern die Gläser gebraucht. Die Beschwerden,

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/51&oldid=- (Version vom 31.7.2018)