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der Sprachentwickelung des Kindes diese tastenden Versuche dem Treffen der Lautkombinationen vorangehen. Viel krampfhafter gestalten sich die Vorbereitungen im Werdegang der minderwertigen Organe, deren Bereitschaften und Arbeitsweisen im günstigen Falle der Ueberkompensation künstlerische Leistungen und Fertigkeiten zutage fördern, oft aber wie in der Neurose aus der Behütung durch die Vorsicht kaum je herauswachsen. Auf dem durch die Sicherungstendenz gebotenen Weg sucht das Kind seine Fehler kennen zu lernen, sie zu verbessern oder durch einen Kunstgriff aus ihnen Nutzen zu ziehen. Da es den wahren Grund seiner Minderwertigkeit nicht kennt, oft auch aus Stolz nicht kennen will, wird es leicht verleitet, äussere Ursachen namhaft zu machen, die „Tücke des Objekts“, zumeist die Angehörigen zu beschuldigen, — und bezieht damit eine aggressive, feindliche Stellung zur realen Aussenwelt. Meist bleibt ihm die Ahnung, die Erwartung böser Schicksale als abstrakter Rest seines Minderwertigkeitsgefühls, die es gerne übertreibt, oft zu Schuldgefühlen ausbaut, wenn die Situation es erlaubt, um sein Voraussehen, seine Vorsicht mit gutem Grund entfalten zu können. Das neurotische Bestreben führt letzter Linie dahin, die Grenzen der Persönlichkeit zu erweitern und zu sichern, indem fortwährend die eigenen Kräfte an den Schwierigkeiten der Aussenwelt abgemessen und erprobt werden. Auf diese angestrengten Versuche lassen sich mancherlei Neigungen des Nervösen, sein Hang mit dem Feuer zu spielen, gefährliche Situationen zu schaffen und aufzusuchen, seine Lust am Grausamen und Teuflischen (Michel) zurückführen. Ebenso wie sadistische Regungen liegen die Neigungen zum Verbrechen an der männlichen Leitlinie, scheitern aber oft an dem sich gestaltenden Widerspruch und werden nur mehr in der Erinnerung tendenziös übertrieben, um vor einer Ausführung zurückzuschrecken.

Mit Vorliebe bedient sich die Nervosität der mangelhaften Organleistungen, der Kinderfehler, des Krankheitsgefühls überhaupt, einerseits um das Persönlichkeitsgefühl des Patienten, — meist nach Art einer trotzigen Revolte, — gegenüber den Forderungen elterlicher Autorität zu sichern, andererseits um, — nach Art einer kunstvollen Obstruktion, — Entscheidungen und Zusammenstösse, die der männlichen Fiktion gefahrvoll werden könnten, hinauszuschieben, gewisse Kampfpositionen aufzugeben, um wichtigere halten zu können. Ja, der Nervöse wird häufig kleine Niederlagen suchen, sie künstlich sogar herbeiführen, oder gefahrvolle Ausblicke schaffen, um daraus die Berechtigung für sein neurotisches Handeln und seine Vorsicht abzuleiten. Bei neurotisch festgehaltenen Kinderfehlern darf man stets auf besonderen Trotz und starke Aggression gegen Vater oder Mutter gefasst sein.

Zwangsmässiges Suchen nach Verständnis der äusseren Schwierigkeiten. Versuche, sie zu überwältigen, zu beherrschen, zu bekämpfen, Geringschätzung und Entwertung des Lebens und seiner Freuden oder Flucht vor ihnen charakterisieren so die eine Seite der Neurose. Dabei kommt recht häufig zutage, dass der Patient vom Leben, von der Arbeit, von der Liebe und Ehe in glühendster Begeisterung, aber platonisch schwärmt, während er sich heimlich durch die Neurose den Zugang zu ihnen verrammelt, um auf begrenzterem Terrain, in der Familie, beim Vater oder bei der Mutter sein Herrschergefühl zu sichern.

Dieser nach aussen gewendete, ängstlich vorsichtige Blick des Neurotikers, zur Wahrung der leitenden Fiktion bestimmt, ist regelmässig

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/56&oldid=- (Version vom 31.7.2018)