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der Minderwertigkeit, und der Nervöse zeichnet, um den Weg zur Höhe nicht zu verfehlen, um die Sicherung vollkommen zu machen, konstant wirkende Leitlinien für sein Wollen, Handeln und Denken in Form der Charakterzüge in den weiten, chaotischen Feldern seiner Seele. Meist findet man die Charakterzüge geradlinig zum männlichen Ideal hinstreben, bei männlichen und weiblichen Patienten; entsprechend den früheren Darlegungen ergeben sich aber, insbesondere nach einer entscheidenden Niederlage des Patienten, die uns schon bekannten neurotischen Umwege, Anfälle und Anfallsbereitschaften, deren analytische Auflösung und Einordnung in das Gesamtbild wieder den Zug zur Erhöhung des männlichen Persönlichkeitsgefühls aufweisen, wenngleich sie äusserlich und oberflächlich genommen oft als Zaghaftigkeit, Angst, als unmännlich erscheinen, ebenso als Flucht oder als Rückzug vor dem Leben angesehen werden könnten. Die einfache Frage betreffs der Beharrlichkeit der oft weither geholten Kunstgriffe in Form der neurotischen Symptome lässt uns verstehen, dass in diesen letzteren Fällen nicht eine Entscheidung gefallen, sondern dass das ursprünglich konstruierte, fiktive männliche Leitziel nach wie vor wirksam ist, und dass eine kulturelle Einfügung, Ruhe und Zufriedenheit nicht aufkommen kann, weil das Ziel zu hoch angesetzt ist.

Durch gewisse Unsicherheiten des Kindes betreffs seiner eigenen Geschlechtsrolle wird der männliche Einschlag in der leitenden Fiktion namhaft verstärkt. In der Tat kann man bei allen Kindern das ungeheuere Interesse für Geschlechtsunterschiede in meist verdeckter Form durchbrechen sehen. Die einheitliche Kleidung der Kinder in den ersten Lebensjahren, weibliche Züge bei kleinen Knaben, männliche bei Mädchen, gewisse Drohungen der Eltern, wie: ein Knabe werde sich in ein Mädchen verwandeln, tadelnde Bemerkungen den Knaben gegenüber wie die, dass er wie ein Mädchen, Mädchen gegenüber, dass sie wie Knaben seien, können die Unsicherheit noch vergrössern, solange die Differenz der Genitalorgane unbekannt bleibt. Aber selbst bei weitest gediehener Aufklärung können durch Anomalien der Genitalien oder durch Fehlurteile Zweifel erwachen, die tendenziös festgehalten werden und immer wieder im gegensätzlichen Bilde des „Männlich oder Weiblich“ im ferneren Leben auftauchen, so dass unsere ursprüngliche Feststellung,[1] dem neurotischen Zweifel liege der Zweifel an der eigenen Geschlechtsrolle zugrunde, bloss in der Richtung eine Erweiterung verlangt, dass die Neurose diese Zweifelslage des Patienten in der Folge als Sicherung gegen Entscheidungen festhält, um die „zögernde Attitude“ auszubauen.

Je länger die Unsicherheit an der eigenen Geschlechtsrolle besteht, um so dringlicher werden die Versuche und tastenden Vorbereitungen, in die männliche Rolle zu gelangen. So entsteht das Urbild des männlichen Protests, der dahin zielt, unter allen Umständen seinen Träger in die männlichste Schaustellung zu drängen, oder, wie es bei Mädchen und frühzeitig neurotisch erkrankten Knaben geschieht, die Herabsetzung in allen Formen durch neurotische Kunstgriffe zu verhindern, gleichzeitig aber geradlinige männliche Charakterzüge und starke Affektbereitschaften auszubilden.


  1. Psychischer Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose l. c. u. die folgenden Schriften.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/59&oldid=- (Version vom 31.7.2018)