Seite:AdlerNervoes1912.djvu/62

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Doch kann ich sie nicht als Abschluss unserer Erkenntnis vom Traume ansehen. Im Laufe einer langjährigen Beobachtung des Traumlebens gesunder und kranker Personen bin ich zu folgenden Ergebnissen gelangt:

1. Der Traum ist eine skizzenhafte Spiegelung von psychischen Attituden, und deutet für den Untersucher die charakteristische Art an, wie der Träumer zu einem bevorstehenden Problem Stellung nimmt. Er deckt sich deswegen mit der Form der fiktiven Leitlinie, gibt immer nur Versuche des Vorausdenkens, probeweise Vorbereitungen einer Aggressionsstellung, kann daher mit grossem Vorteil zum Verständnis dieser individuellen Vorbereitungen, der Bereitschaften und der leitenden Fiktion verwendet werden.

2. In gleicher Weise treten, mehr oder weniger abstrakt, die Einstellungen des Träumers zur Mitwelt und somit auch seine Charakterzüge[1] und deren neurotische Abbiegungen zutage. Die Abstraktion im Traumdenken ist durch die Sicherungstendenz erzwungen, die ein Problem durch Vereinfachung und Zurückführung auf ein einfacheres, kindlicher gelegenes zu lösen sucht, und dies ganz wie das Denken überhaupt, nur vertiefter, mittelst des Gedächtnisses bewerkstelligt, in bildlicher, analogischer Weise, durch halluzinatorische Erweckung von Erinnerungen schreckender oder aneifernder Art. Die Absperrung Tod der Wirklichkeit durch den Schlaf unterstützt das abstraktere Denken im Traume, da die Korrektur durch den Schlaf der Sinnesorgane zum grössten Teil ausgeschlossen ist. Dieser Umstand sowie der Mangel einer bewussten Zwecksetzung im Traumdenken verschulden die Unverständlichkeit des Trauminhalts, der überhaupt erst einen Sinn erhält, wenn man ihn als ein Symbol des Lebens nimmt, ein „Als ob“, für welches die Deutung erst die reale Aggression einzusetzen hat.

3. Diese noch zu erweisenden Tatsachen sowie die Ausdrucksform des Traumes in einem „Als ob“ („Mir war, als ob“) zeigen uns das Wesen des Traumes als einer Fiktion, in der sich die Vorversuche und Proben verdeutlichen, durch welche die Vorsicht zur Beherrschung einer Situation in der Zukunft gelangen will. Bei den Träumen nervöser Personen wird man deshalb deutlicher als bei andern die neurotische, nach dem Prinzip einer starken Gegensätzlichkeit arbeitende Apperzeptionsweise, das betonte Minderwertigkeitsgefühl und die leitende Persönlichkeitsidee beobachten oder im Zusammenhang mit ihrem Seelenleben erraten können.

4. Der Zug der neurotisch verstärkten Leitidee wird sich in den Träumen der Nervösen regelmässig äussern, zumeist im Bilde des Strebens nach „Oben“ oder des männlichen Protestes. Die weibliche oder „untere“ Operationsbasis ist immer angedeutet.

5. Wiederholte Träume ähnlichen Inhalts und erinnerte Kindheitsträume zeigen die fiktive Leitlinie am deutlichsten. Denn sie bauen sich auf einem fertigen oder als brauchbar befundenen Schema auf, das durch das neurotische Endziel errichtet und festgehalten wird. Die mehrfachen Träume einer Nacht weisen auf den Versuch einer mehrfachen Lösung hin und kennzeichnen das Gefühl einer stärkeren Unsicherheit. Die sogenannte „Traumzensur“, derzufolge die Verdeckung


  1. Schon G. Chr. Lichtenberg schreibt: „Wenn Leute ihre Träume aufrichtig erzählen wollten, da liesse sich der Charakter eher daraus erraten als aus dem Gesicht.“
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/62&oldid=- (Version vom 7.12.2020)