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Erweiterung ihrer Einflusssphäre. Um dies anzustreben, ja nur um dazu Stellung nehmen zu können, bedarf es bei ihnen einer ständigen Unterhaltung ihrer Unzufriedenheit, so dass sie aus Rücksicht auf das gesetzte fiktive Leitziel aus jeder Situation durch Überlegung, Arrangement oder Willkürlichkeit Nahrung für ihre Unzufriedenheit und Beweise für ihre Zurückgesetztheit gewinnen wollen. Mit grosser Regelmässigkeit fand ich bei ihnen die gegensätzliche Apperzeptionsweise nach dem Schema: „Männlich-Weiblich“, mittelst derer sie alle ihre Erlebnisse suchten und klassifizierten. Überlagert ist dieses Schema, nachdem sie das Weltbild einfangen wollten, gewöhnlich durch ein gegensätzliches Bild des grossen und kleinen männlichen Genitales.

Es ist ein häufiger und charakteristischer Befund, dass sich an Körperstellen, die von Natur aus minderwertig sind, eine feinere Sensibilität entwickelt, deren Erregung zuweilen den Charakter des Lustvollen annimmt. Ich habe diese Erscheinung in der „Studie über Organminderwertigkeit“ (1907, Wien und Berlin) beschrieben und führe sie auf kompensatorische Einrichtungen zurück, die bei den Vorfahren des Individuums im Kampfe um ihre Erhaltung bei Gefährdung des betreffenden Organs oder Organteiles in Gang gekommen sind. Diese kompensatorischen, nunmehr höherwertigen Anteile eines minderwertigen Organs, — minderwertig, nachdem es in der Aszendenz zu Schaden gekommen war, — sind eigentlich Schutzvorrichtungen in gewissem Sinne, wenngleich sie sich häufig nicht bewähren. Da aber ihre Technik eine andere geworden ist, mit der annähernd normaler Organe nicht mehr gleichen Schritt hält, so werden auch die psychischen Erscheinungsweisen, die sich an dieses Organ knüpfen, auffällig und aus der Norm herausfallen. Es handelt sich um die gleiche, wenngleich minutiösere Variation auf der Grundlage der Minderwertigkeit, die ich in der Biologie zur Erklärung der Variation, der Verfeinerung und des Verfalls der Organe herangezogen habe.[1]

Auf diese Weise hat sich z. B. im Bereiche des Nahrungsorgans der geschmackempfindende Apparat als Sicherungsapparat herausgebildet, ebenso aber auch der lustempfindende Apparat, der nunmehr die Kontinuität der Ernährung und die richtige Auswahl der Speisen garantieren muss. Die Variation gegenüber der Ahnenreihe kommt durch „Kompensationstendenzen“ zustande, die im Keimstoff eingeleitet werden. „Die Konjunktur (im weiteren Sinne: das Milieu) beherrscht das Keimplasma“, und so erklärt sich die prompte einheitliche Reaktion, — Minderwertigkeit + kompensatorischer Sicherung — durch Veränderung der Lebensbedingungen im weitesten Sinne, das heisst: alle Lebewesen einer einheitlichen Spezies variieren bei der gleichen Änderung ihrer Lebensweise in gleicher Richtung. Für die menschliche Gesellschaft muss man den Gesichtspunkt festhalten, dass — mehr als im Tier- und Pflanzenreich — die Beanspruchungen an die Einzelindividuen quantitativ und qualitativ verschieden sind, so dass ihre Organminderwertigkeiten und deren kompensatorische Sicherungen innerhalb einer beträchtlichen Breite differieren. Und diese Variationen


  1. So wird auch die Wertigkeit eines Organs im „Strome des Lebens“ zum Symbol, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und fiktives Endziel, — ganz wie im Charakter oder im nervösen Symptom, — abspiegeln. — Der Gedanke des „Symbolischen in der Gestalt“ ist nicht neu, er findet sich bei Porta, Gall und Carus.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/65&oldid=- (Version vom 17.5.2019)