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Schwestern gegenüber blieb er zeitlebens aufopferungsfähig, aber diese Tatsache apperzipierte er schon mit überaus starker Empfindung und entwickelte daraus mit Tendenz Gedankengänge, wie leicht er Frauen gegenüber nachgäbe. Und er konnte auch gelegentlich in dieser Richtung weit gehen, um diesen Eindruck bei sich recht scharf hervorzuheben. Dann war er vorbereitet, sich von den Frauen zurückzuziehen.

Aus seiner Kindheit hatte er Gefühle der Minderwertigkeit in ein sexuelles Bild gebracht. Die Ursache seiner unmännlichen Haltung, — hatte ihn doch der Homosexuelle als Mädchen nehmen wollen! — suchte und fand er in einem gelegentlichen Kryptorchismus, der durch einen offenen Leistenkanal verschuldet war. Als er 8 Jahre alt war, beobachtete er einen Knaben bei der Masturbation. Hic puer ei semen ejaculavit in os, was er als ein weiteres Zeichen seiner weiblichen Rolle empfand. Solange er den Vater zum Leitpunkt gemacht hatte, zeigte er die gewöhnlichen Vorbereitungen, ihm gleich zu werden. Er trank ihm heimlich den Schnaps aus, versuchte die Mutter auf seine Seite zu ziehen, und wählte frühzeitig den Beruf seines Vaters, in welchem er auch seine durch das Gefühl seiner Minderwertigkeit und durch das Hinstreben zum Leitbild des Vaters gereizten sadistischen Neigungen befriedigen konnte, er wurde Fleischhauer. Rohe Neigungen betätigte er auch gerne an Mädchen und Frauen, er biss sie, schlug sie und nahm auch einmal an einer Vergewaltigung teil, bei der er den Coitus per anum ausführte, um nicht etwa zu Alimenten verpflichtet zu werden. Dieses Erlebnis aber, das ihn noch ganz in der brutalen Manier des Vaters zeigte, drängte ihn durch die drohende Konsequenz vor strafrechtlichen Folgen und durch die damit verbundene Herabsetzung seines Persönlichkeitsgefühls auf einen neurotischen Umweg. Er verwendete sein ohnehin gesteigertes Misstrauen gegen Mädchen dazu, sie mit eifersüchtigen Anwandlungen zu quälen, sie ganz unter seinen Einfluss zu beugen und sich auf diese Weise den Schein seiner Herrschaft zu sichern. Seine Ejaculatio praecox und die damit verbundene Impotenz dienten seinem Sicherungsbedürfnis ebenso wie seiner Gehässigkeit gegen die Frau. Mit Vorliebe versuchte er verheiratete Frauen zu verführen, um ihnen durch seine Impotenz Enttäuschungen zu bereiten, gleichzeitig aber, um in spielerischer Weise Bestätigungen zu erlangen, dass „alle Frauen“ schlecht seien. Auch in Zwangsideen äusserte sich diese Neigung, weh zu tun. So hatte er während der Kur noch Anwandlungen, eine Sprachlehrerin während des Unterrichts zu beissen und zu schlagen, weil ihm Gedanken aufgetaucht waren, sie hätte einen Geliebten, den sie ihm vorzöge. Diese sadistische Reaktion auf ein Gefühl des Unterliegens, als männlicher Protest gegen die Empfindung, unmännlich, weiblich zu sein, stammt aus der Kindheit und durchzieht seine ganze Neurose. Es war nicht schwer, nachzuweisen, dass seine Impotenz in gleicher Weise dem Endzweck gehorchte, eine Art zu finden, um der Liebeshörigkeit, der Unterstellung unter ein Weib zu entkommen, eine Tendenz, die aber ihre Fortsetzung darin fand, immer wieder Frauen auf irgend eine Weise herabzusetzen. Als er bei seiner Lehrerin keine Aussicht zu reussieren hatte, verliess er sie brüsk, da er wusste, dass das Mädchen auf Stundengeben angewiesen war. Vorher aber stellte er kritische Berechnungen über die Kosten seiner Sprachstunden auf, fand sie für seine Verhältnisse unerschwinglich, was als falsche, tendenziöse Wertung des sehr wohlhabenden

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/77&oldid=- (Version vom 31.7.2018)