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psychogen, da entsprechende organische Veränderungen fehlten, und die von mir hervorgehobenen sichernden Charakterzüge[1] leicht nachzuweisen waren. Den Ratschlag eines namhaften Gynäkologen, wegen perimetritischer Verwachsungen eine Exstirpatio uteri vorzunehmen, liess ich unberücksichtigt, seit ich aus anderen Fällen gelernt hatte, die ursächliche Bedeutung solcher Schrumpfungsvorgänge (Freund) für die Neurose als mittelbar, über die Psyche wirkend zu verstehen. Veränderungen an den Genitalien, Hemmungserscheinungen, Missbildungen sowie Erkrankungen finden sich häufig bei neurotischen Kranken. Und Bossi hat sicherlich recht, wenn er, wie ich es bereits früher getan habe (Studie 1907) auf diesem Zusammenhang besteht. Der Zusammenhang liegt aber entweder in der Vermittelung eines speziellen Minderwertigkeitsgefühls, das bei neurotischer Disposition zum Ausbruch der Neurose Veranlassung gibt, oder die aus anderen Ursachen ausgebrochene Neurose bedarf eines sichernden Hinweises auf eine organische Veränderung, um den gesetzten Zweck des männlichen Protestes in die Wege zu leiten. Die sexuelle Minderwertigkeit wird sozusagen zum Vehikel, was besonders dann in die Augen springt, wenn geringfügige Veränderungen oder gar eingebildete, fiktive, wie vermeintlicher Verlust der Klitoris, Vergrösserung der Labia minora, Feuchtwerden der Öffnung, sagenhafte Merkmale der Masturbation etc. oder Behaarungsanomalien, Phimose, paraurethrale Gänge und asymmetrische Haltung des Penis, der Testiculi, Kryptorchismus zum Anlass und Symbol des Minderwertigkeitsgefühls genommen werden.

Die Erkrankung begann mit einem Schmerz im Abdomen, der sich während einer Tennispartie einstellte. Ein Jahr vorher war ihr eine Tochter gestorben, und ihr Mann, ein grosser Kinderfreund, wünschte sich noch weitere Kinder. Patientin, die seit frühester Jugend immer ihr Los beklagt hatte und ein Mann sein wollte, war durchaus nicht geneigt, diesen Wunsch zu erfüllen. Der Schmerz, — wohl infolge einer Zerrung entstanden, — gab ihrem undeutlich bewussten Widerstand neue Nahrung: sie konnte seither keinen Druck auf dem Bauch vertragen, ihr Bauch wurde für sie eine heikle Partie, und durch weiteres Arrangement von Schlaflosigkeit und Üblichkeiten, letztere als Memento einer Schwangerschaft, brachte sie es dahin, dass ihr Mann auf Anraten der Ärzte den Geschlechtsverkehr aufgab und ein abgesondertes Schlafzimmer bezog.

Schon die Mitteilung, ihren Gelenkrheumatismus betreffend, war charakteristisch. Sie gab der bereits verstorbenen Mutter alle Schuld. Diese hatte sie im Elternhause gezwungen, zu waschen und zu bügeln, hatte sie stets den anderen Geschwistern gegenüber zurückgesetzt und war in späteren Jahren noch ebenso hartherzig gegen sie verfahren. Der Geiz der alternden Frau hat sie in manche Schwierigkeit gebracht. Ihre Leiden aber glaubte sie alle vom Vater ererbt zu haben, so dass auch dieser sein Teil Schuld abbekam.

Derartige Vorwürfe gegen die Eltern weisen nach meiner Erfahrung regelmässig auf einen anderen Vorwurf hin, den das Kind seinen Eltern heimlich zu machen pflegt, wenn es sich nicht genug oder gar nicht männlich findet. Solche Vorwürfe werden späterhin abstrakt,

  1. Deren differentialdiagnostische Bedeutung über jeden Zweifel erhaben ist. Bloss die Gleichzeitigkeit einer organischen Affektion ist noch regelmässig zu erwägen.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/86&oldid=- (Version vom 31.7.2018)