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Mehrzahl der Fälle aufzufinden sein, und zwar deshalb, weil durchgängige Minderwertigkeit eines Organes oder Apparates einen gewissen Grad von Lebensunfähigkeit darstellt, der zu frühzeitigem Tode Veranlassung genug gibt. In Familien mit hoher Kindersterblichkeit dürften sich Anhaltspunkte für diese Auffassung finden lassen. Die sozialen Verhältnisse brauchen dabei durchaus nicht in ihrem furchtbaren Gewicht angezweifelt zu werden, aber ihre Wucht konzentriert sich wie die aller anderen Angriffe auf die minderwertigen Organe. Am geläufigsten sind uns diese Kompensationserscheinungen am Zirkulationsapparat und am Magendarmtrakt, wo sie nach der herrschenden Lehre vor allem zum temporären Ausgleich mechanischer Mißverhältnisse und durch sie bedingt auftreten. Ihre Hinfälligkeit allein macht sie indes verdächtig. Man sollte doch annehmen, daß ein naturgemäßeres Training kaum möglich sei als das eines Organabschnittes zur Bewältigung einer meist langsam entstehenden Stenose. Und doch finden wir in vielen Fällen ein so völliges Versagen der Kompensation in mehr weniger kurzer Zeit. Die Annahme einer Minderwertigkeit auch im kompensierenden Abschnitt, dessen Wachstumsenergie nur rascher aufgebraucht wird, klärt diese Hinfälligkeit um vieles. Dazu kommt noch, daß wir nach den bisherigen Darlegungen in der Etablierung und in der Entwicklung des Krankheitsherdes eine Minderwertigkeit des befallenen Organabschnittes zu erblicken gezwungen sind, von der wir die angrenzenden Teile nicht ohne weiteres völlig ausschließen können. Die gleiche Beweisführung möchten wir auf die Vorgänge bei Strikturen im Harnapparat und bei Lithiasis sowie auf die kompensatorischen Vorkommnisse im Zentralnervensystem ausdehnen.

Bezüglich der Kompensation eines minderwertigen Organes durch ein zweites Organ kann ich mich kurz fassen. Wir sind gewohnt, dabei an Herzhypertrophien zu denken, mittelst welcher ein funktioneller Ausfall der Nieren oder der Lungen ausgeglichen wird. An dem Faktum ist nicht zu zweifeln. Ich werde nur wie oben hinzufügen müssen, daß manches dafür spricht, in solchen Fällen auch das Herz als minderwertiges Organ aufzufassen. Nebenbei möchte ich bemerken, daß diese Gruppe offenbar eine viel größere Aufmerksamkeit verdient, als ihr gegenwärtig zukommt. Unzweifelhaft ist das häufige kompensatorische Eintreten des Gehirnes bei mangelhaften Funktionen der Organe. Aber auch die Drüsen mit Ausführungsgängen und die mit innerer Sekretion dürften häufig zur Kompensation herangezogen werden. Die gesamten Krankheitserscheinungen werden oft durch die Erkrankung des kompensierenden Organes beherrscht. Die Ergebnisse der pathologischen

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/25&oldid=- (Version vom 31.7.2018)