der sichtbare Ausdruck einer Minderwertigkeit des Respirationstraktes, die sich freilich nicht immer als spezielle Erkrankungsform darstellt. Heredität aber und Kinderfehler sind oft dabei wahrzunehmen, von letzteren insbesondere Stottern, Daumenlutschen, Saugen an den Lippen und allerlei Sprachfehler. Ebenso werden uns bei solchen Kindern sehr häufig Katarrhe der Luftwege, Pseudokrupp und Anginen begegnen, was bereits Gutzmann und andere hervorgehoben haben. Eine Häufung dieser peripheren Stigmen ist nicht selten. Vorgreifend muß ich noch erwähnen, daß auch der Gaumenreflex recht oft dabei Veränderungen unterliegt, indem er sich als fehlend, schwach oder gesteigert erweist, während der Rachenreflex nach meinen Untersuchungen diesen Zusammenhang seltener erkennen läßt. Ebenso findet man diese Stigmen auffallend oft bei Neurosen, Sängern, Rednern und im Zusammenhang mit schwereren Erkrankungen des Respirationstraktes, sei es des Untersuchten oder seiner Verwandtschaft, von denen ich besonders die Lungentuberkulose hervorheben möchte.
Fräulein L. weist an der Oberlippe, entsprechend der Stelle der embryonalen linken Gaumenspalte eine kleine, wulstförmige Verdickung auf, die durch erweiterte Blutgefäße bläulich gefärbt erscheint. Der Wulst ist angeboren. Aus der Anamnese geht hervor, daß das Fräulein häufig an Kehlkopfkatarrhen und Bronchitiden leidet, sowie daß Vater, Mutter und ein Bruder an Lungentuberkulose gestorben sind. Gaumenreflex fehlt. Patientin weist leichte neuropathische Züge auf, die sich auf den Verdauungstrakt beziehen, leidet oft an Herzklopfen, Schlaf- und Appetitlosigkeit. Sie ist eine vortreffliche Sängerin (Sopran). Eine Schwester leidet an Angstanfällen und zeigt noch im Alter von 42 Jahren einen Sprachfehler in Form von Lispeln. Anknüpfend an diesen Fall möchte ich nur hervorheben, daß bei mir der Eindruck eines Zusammenhanges von schöner Singstimme und der von mir skizzierten Organminderwertigkeit feststeht und daß ich dafür einiges Material zur Verfügung habe.
Marie B., 12 Jahre alt. kommt wegen Stotterns und Lispelns zur Ordination. Vater an Lungentuberkulose gestorben. Bruder hat als Kind gleichfalls gestottert und steht derzeit wegen Halswirbelkaries in Behandlung. Mutter anscheinend gesund. Patientin zeigt ein auffällig schlechtes Gebiß, Schleimhautwucherungen der Nase und adenoide Vegetationen. Fortgang in der Schule schlecht. Gaumenreflex bei Patientin und ihrem Bruder mangelhaft.
Josef S., 50 Jahre alt, leidet an Angina follicularis, die häufig rezidiviert. Patient hat seit dem 5. Lebensjahre zahlreiche Anfälle von
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/46&oldid=- (Version vom 31.7.2018)