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nach meinen Erfahrungen in diesen Rahmen hineingehören, und daß die gleiche Argumentation für Karzinome und andere Geschwülste des Nahrungstraktes Geltung haben muß. Einiges von diesen Zusammenhängen ist in der Medizin bereits Gemeinplatz geworden, wenn auch die Deutung meines Erachtens unvollkommen geblieben ist und erst der Minderwertigkeitslehre entnommen werden kann. So der Zusammenhang von schlechten Zähnen und Magendarmstörungen. Oder die neuerdings von Kretz betonte Verbindung von Angina und Appendizitis, die von uns als koordinierte Erkrankungen an einem minderwertigen Organ angesehen werden. Ebenso ist die belegte Zunge bei Magen-Darmaffektionen zu deuten.

Die gleiche Bedeutung haben Hernien und Stigmen, die sich um den Anus gruppieren, wie Hämorrhoiden, Fissuren, Prolaps, deren Zusammenhang mit Organminderwertigkeit, also auch mit oralen Stigmen, Kinderfehlern, Reflexanomalien, Neurosen am Stammbaum häufig nachzuweisen ist, deren Zusammenhang mit Erkrankungen am stigmatisierten Organ zumindest in der Familie oft in der oben dargelegten Weise zu erkennen ist.

Albert F., 32 Jahre, Gesangskomiker, hat vor 4 Jahren Lues erworben und ist seit der Zeit von hypochondrischen Stimmungen gequält. Sein Vater litt viele Jahre an Gallensteinkoliken, die Mutter starb an Magenkarzinom. Patient war früher stets gesund und stand bloß einmal wegen eines „Sängerknötchens“ in spezialistischer Behandlung. Gegenwärtig findet sich an der Oberlippe ein Herpes, der, wie Patient angibt, öfters rezidiviert. Gaumenreflex fehlt, Rachenreflex zeigt sich vermindert. Die Schneidezähne des Patienten sind sämtliche schief gestellt, zwei obere Schneidezähne fehlen. — Diese Zahnanomalien sind als äußeres Degenerationszeichen zu betrachten, dem eine Minderwertigkeit des Verdauungstraktes im Familienstammbaum entspricht: Vater und Mutter litten an schweren Erkrankungen dieses Apparates. Die Bedeutung des Herpes wurde schon berührt, die Schlundreflexanomalien weisen auf die gleiche Minderwertigkeit des Atmungsapparates hin, zu denen sich als weiteres Minderwertigkeitszeichen Sängerknötchen und Mangel des Gaumenreflexes gesellen. In die gleiche Richtung deutet der Beruf des Patienten. Die Bedeutung des „Sängerknötchens“ müssen wir analog vielen anderen Anomalien in seiner Rolle als Stigma erblicken, welches uns das minderwertige Organ verrät, dasselbe Organ, das andrerseits seinen Besitzer in den Beruf eines Sängers oder Redners drängt.

Typisch erscheint mir folgender Fall: Ignaz C., Kaufmann, 50 Jahre alt, leidet seit vielen Jahren an hartnäckiger Obstipation. Er stammt

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/48&oldid=- (Version vom 31.7.2018)