eine Leistung der psychomotorischen Sphäre in der postembryonalen Zeit sei, veranlassen mich, alle Anomalien der Schleimhautreflexe als fehlerhafte Leistung eines minderwertigen Organes hinzustellen. Der reine Typus dieser fehlerhaften Leistung, die mit den früher besprochenen Kinderfehlern eine große Verwandtschaft zeigt, ist der Mangel des Reflexes, während der Steigerung der Charakter der Überkompensation beizumessen ist. Die Vorgänge, die zur Steigerung des Reflexes führen, knüpfen offenbar an ein minderwertiges, aber leistungsfähigeres Nervenmaterial an, steigern dessen Energie und Einfluß auf die Reflexzone und erzwingen so die höhere Reflextechnik. Wie später noch gezeigt werden soll, steht das minderwertige Organ mit seinem psychischen Überbau fast regelmäßig im Brennpunkte des Interesses seines Trägers. Es ist das mißratene, aber verhätschelte Organ, das infolge bewußter und unbewußter Aufmerksamkeit stets die Psyche in Erregung erhält. Neu anlangende Reize — die Leitung zum Gehirn ist ja trotz Reflexmangel zumeist ungestört — gelangen so nach und nach in ein Gebiet höherer psychischer Spannung, die um so größer ist, je weniger durch motorischen Reflex von ihr abgeführt wird. Dieser Zustand kann durch das ganze Leben andauern. Recht häufig aber scheint sich in früher Kindheit offenbar auf dem Wege der Kompensation eine Erhöhung der Reflexfähigkeit durchzusetzen, die in gleicher Weise von der ursprünglichen Minderwertigkeit des zugehörigen Organes, zuweilen auch des Segmentes Zeugnis ablegt.
Was nun die Ergebnisse meiner Untersuchungen bezüglich des Gaumenreflexes anlangt, so fügen sie sich, wie auch die Erfahrungen beim Konjunktivalreflex, ganz meiner bisherigen Darstellung. Man findet Mangel oder Steigerung des Gaumenreflexes bei den verschiedensten Erkrankungen des Ernährungs- und Respirationstraktes, vor allem bei Angina, Lungentuberkulose, Nasen- und Kehlkopferkrankungen und bei bestimmten Berufen, zu deren Erfüllung das Entgegenkommen eines minderwertigen, aber überkompensierten Organes nötig ist, wie bei Sängern, Rednern und Instrumentenbläsern. Ich konnte mich in allen diesen Fällen von dem Überwiegen eines Reflexmangels überzeugen. Den Einwand, daß hier keine Koordination, sondern eine durch die Krankheit oder den Beruf bedingte Anomalie vorliege, kann ich durch den Hinweis auf die Heredität der Reflexanomalie ohne weiteres beseitigen; der übermäßige oder fehlende Gaumenreflex findet sich fast immer bei den engeren Gliedern der Familie wieder, ohne daß die Anomalie mit Krankheit oder Beruf im Zusammenhang sein müßte. Andrerseits geht aber aus meiner Auffassung eine Erklärung der Tatsache hervor, daß
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/59&oldid=- (Version vom 31.7.2018)