so häufig Mitglieder der gleichen Familie der gleichen Krankheit anheimfallen oder immer wieder den gleichen, meist künstlerischen Beruf ergreifen. Ein drittes darf nicht übersehen werden, daß die Anomalie vorhanden sein kann, ohne sich mit Krankheit oder Beruf zu verbinden, sowie daß die Reflexfähigkeit trotz Krankheit oder Beruf normal erscheinen kann, aus Gründen, die wir schon öfters anführten, insbesondere, weil sich die Minderwertigkeit des Organes anderswie oder an anderer Stelle manifestieren kann. Vielleicht noch häufiger sind Zusammenhänge der Gaumenreflexanomalien mit Magendarmerkrankungen zu konstatieren. Vor allem scheint mir der Mangel des Gaumenreflexes, seltener erhebliche Steigerung bis zum Verschwinden der Uvula, fast regelmäßig an hysterische Manifestationen des Magendarmapparates, zuweilen des Respirationstraktes geknüpft zu sein. Hysterisches Aufstoßen, Erbrechen, Singultus, Schreikrampf, Aphonie, das vielgestaltige Bild der Magen- und Darmneurosen zeigen fast regelmäßig das Bild der Gaumenreflexanomalie. Wenn die herrschende Auffassung den Mangel des Gaumenreflexes als Verdachtsmoment für Hysterie ansieht, so ist sie bis zu einem gewissen Grade im Recht, ebenso aber auch die Gegner, weil, wie wir später sehen werden, die hysterischen Manifestationen von anderen minderwertigen Organen ihren Ausgangspunkt nehmen können, so daß die orale Zone dann als normal erscheint. Was organische Erkrankungen anlangt, so konnte ich mich überzeugen, daß zwischen Appendizitis, Pseudoappendizitis, Ulcus rotundum, Gallensteinerkrankungen, Diabetes, Karzinom der Gallenblase, chronischer Obstipation, Fettsucht, vielleicht auch chronischem Alkoholismus und unserer Reflexanomalie die gleichen Zusammenhänge gelten, wie sie zwischen Krankheit und Kinderfehlern oder zwischen Erkrankung und Stigma nachweisbar sind.
Ich kann nicht umhin, schon an dieser Stelle darauf zu verweisen, wie groß die Verwandtschaft zwischen Reflexanomalie und Kinderfehlern ist. Beide sind funktionelle Anomalien am minderwertigen Organ, die so lange währen können, bis ihnen durch kompensatorisches Eingreifen des Zentralnervensystems, der Psyche, ein Ende bereitet wird. Ferner ist die Erscheinungsweise vieler Kinderfehler nichts anderes als ein meist fortgesetzter gesteigerter Reflex. So der Blepharospasmus, der seltenere Nystagmus, das Daumenlutschen und Lippensaugen (siehe Saugreflex), das Stottern, das Erbrechen, die Enuresis, die Incontinentia alvi. Sie alle sind nicht von außen, sondern von innen angeregt und stehen unter dem Impuls des Zentralnervensystems. Es sind die abgeänderten Arbeitsweisen des minderwertigen
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/60&oldid=- (Version vom 31.7.2018)