Organes, die in den Kinderfehlern wie in den Reflexanomalien zutage treten, und sie gehorchen der kompensierenden und überkompensierenden Kraft des nunmehr zur Überwertigkeit gelangenden Anteiles der psychomotorischen Sphäre. Ich will im folgenden an der Enuresis die Verwandtschaft von Kinderfehlern und Reflexanomalie weiter verfolgen. Einen ernsthaften Einwand kann ich kaum gewärtigen, wenn ich diese Affektion unter die Zahl der funktionellen Minderwertigkeiten aufnehme. Die Meinungen einzelner Autoren, welche organische Hypoplasien anschuldigen, in der Blase oder im Zentralnervensystem zu vermuten, können an dieser Auffassung nichts ändern, stehen vielmehr nach meiner Darlegung über äußere und innere Stigmen mit ihr in gutem Einklang. Nun gibt es in der Symptomatologie der Enuresis ein charakterisierendes Zeichen, nach welchem geradezu eine Einteilung in zwei Formen versucht wurde: das Verhalten des Sphinkters beim Katheterismus, das sich einmal als Schlaffheit (Reflexlosigkeit), ein andermal als verstärkter Tonus, als Krampf (Reflexsteigerung) darstellt. Es ist in diesem gegenteiligen Verhalten die uns schon geläufige Reflexanomalie des minderwertigen Organes zu erkennen und wir wären in der Lage, aus dieser Reflexanomalie allein — die Enuresis, der Kinderfehler braucht ja trotz Minderwertigkeit des Harnapparates nicht regelmäßig in Erscheinung zu treten — den Sachverhalt zu erschließen, nämlich die Minderwertigkeit des Harnapparates oder Geschlechtsapparates im Stammbaum zu vermuten.
Wenn wir es mit Reflexlähmungen infolge von organischen Nervenerkrankungen zu tun haben, so darf gleichfalls nicht vergessen werden, daß sich nach den aufgestellten Grundsätzen die organische Erkrankung in minderwertigen Bahnen lokalisiert. Besonders an die Erscheinungen der segmentalen Minderwertigkeit muß gedacht werden, die bei Tabes, bei Beschäftigungserkrankungen, Schreibkrampf etc., bei Pseudohypertrophie und Erbscher Erkrankung sicherlich eine Rolle spielt.
Der Bruder eines Arztes erkrankte an Tabes dorsalis, die sich längere Zeit als Sehnervenatrophie bekundete. Der Kollege selbst und mehrere seiner Geschwister litten in ihrer Kindheit an Blepharospasmus. Ähnlich dürften die Verhältnisse bei tabischen Blasen- und Mastdarmstörungen, bei Ataxie, Gürtelgefühl, Larynx- und Magenkrisen liegen, während bei progressiver Paralyse ein ursprünglich minderwertiges Gehirn zu vermuten ist.
Für die Bedeutung der Gaumenreflexanomalie im Zusammenhang mit Erkrankungen der Luft- und Nahrungswege möchte ich folgende Fälle anführen:
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/61&oldid=- (Version vom 31.7.2018)