Kindesalter deutlich geltend machen. Es handelt sich in allen diesen Fällen um die große Zahl der scheuen, blassen, ängstlichen Kinder, deren Entwicklung und Zukunft erst als gesichert angesehen werden kann, wenn sie mit dem minderwertigen Organ ohne Schaden fertig geworden sind, d. h. die Kompensation durchgeführt haben und mühelos leisten können. Andernfalls, wenn die Leistungen des Organes nicht durch Überschuß aus dem Zentralnervensystem, sondern auf Kosten desselben zustande kommen, wird sich die Mehrarbeit dauernd fühlbar machen und bei geeigneten Anlässen, Gelegenheitsursachen, eine Kompensationsstörung herbeiführen, die sich je nach ihrem Grade und der momentanen psychischen Konstellation als Neurasthenie, Angst-, Zwangsneurose, Hysterie präsentieren wird.
An den Kinderfehlern, die in unserer Studie eine so große Rolle spielen, und deren Verlauf sind Minderwertigkeit und Kompensationsbestreben deutlich abzuschätzen. Jede freie Tätigkeit des Säuglings und Kindes ist mit Lust verbunden oder auf Lustgewinn berechnet, Spielen, Springen, Laufen, Sehen, Hören, Saugen, Urin- und Kotentleerung. Die daraus entspringenden Lustgefühle bilden recht eigentlich das Band, mittelst dessen das Kind an seine Umgebung, mit der äußeren Welt sozial verknüpft ist. Sie sind direkt wahrnehmbar, haften an der Organbetätigung, und ihre Spuren sind im späteren Leben oft leicht nachzuweisen. Die Lustbetonung ist es auch, die oft die Hartnäckigkeit des Kinderfehlers verschuldet, so daß nicht selten der gesteigerte Wille des Kindes, die suggestive Wirkung irgend einer therapeutischen Handlung genügt, den Fehler zu beseitigen. Freud hat in der Psychoanalyse der Neurosen diese primäre Lust nachgewiesen, und auch ich konnte sie in meinen Fällen regelmäßig aufdecken. Überzeugend scheint mir ferner der Umstand zu sein, daß ich in den Träumen gesunder Erwachsener, die in der Kindheit an solchen Fehlern gelitten hatten, die Erinnerung an diese Lustempfindung in der Form eines im Traume erfüllten Wunsches wiederfand. So in den Träumen solcher Personen, die in ihrer Kindheit an Enuresis gelitten hatten und nun in Intervallen von Wasser, vom Schwimmen oder von Feuer träumten.
Annähernd normale Organe, denen ein genügend aufnahmsfähiges Zentralnervensystem entspricht, fügen sich anstandslos in die Forderung der umgebenden Kultur. Kein Wunder, da sie selbst an dem Aufbau und der Richtung dieser Kultur mitgeholfen hatten. Andrerseits können wieder geänderte und gesteigerte äußere Ansprüche, Enttäuschungen, Sorgen, traumatische Einflüsse, Erkrankungen, Milieuwechsel ein Organ und damit seinen zentralen Überbau als minderwertig entlarven,
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/75&oldid=- (Version vom 31.7.2018)