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die mühsam aufrechterhaltene Kompensation stören. Denn die minderwertigen Organe stoßen ringsherum auf Schwierigkeiten und Gefahren, was nur ihrem natürlichen Verhältnis zur Umgebung entspricht und die eigentliche Grundlage der naturaselection Darwins darstellt. Kommt es zur Bewältigung, so nur unter erhöhtem Kraftaufwand. Schon das vollwertige Organ steht vor der Aufgabe, sein uneingeschränktes, lustvolles Walten dem Zwang der Erziehung zu unterwerfen. Der Nahrungsapparat soll nur Befriedigung finden, so weit es die Einrichtungen des Milieus und der große Ekel der Kultur gestattet. So wird das übergeordnete psychische Gebiet zu bestimmten Aufgaben genötigt, die anfangs nicht leicht fallen, im Durchschnitt aber durch Steigerung der Leistungsfähigkeit anstandslos gelingen. Im Falle der Minderwertigkeit des Organes aber und entsprechender Insuffizienz der zugehörigen Anteile des Nervensystems bleibt die Einfügung des Organes und seiner Tätigkeit in die verlangte Kultur zurück. Die Funktion geht dann nicht die geforderten kulturellen Bahnen, sondern arbeitet vorwiegend auf Lustgewinn. Wir finden also in der Entwicklung des vollwertigen Organes eine gewisse Unterordnung der Lustkomponente unter die vom Milieu erheischten Leistungen — wir wollen sie die „moralischen“ nennen —, deren endgültiger Sieg die Kultur des Kindes sicherstellt. Der Einklang der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit, ein psychophysischer Parallelismus im wahren Sinne des Wortes, kennzeichnet die Entwicklung des vollwertigen Kindes. Anders beim minderwertigen Organ. Liegt ein besonderer Tiefstand der Entwicklung des Organes als auch der zugehörigen Nervenbahnen vor, so wird jede Kultur verweigert und es resultieren Zustände wie Idiotismus und Imbezillität. Aber auch bei milderer Ausprägung arbeitet das minderwertige Organ selbsttätig, dem psychischen Eingreifen abhold, auf Lustgewinn und fröhnt demselben um so mehr, je länger es auf die moralische Ablösung — Freuds Verdrängung — warten muß. Denn es hat sich unterdessen in den spielerischen Betrieb eingelebt, soll nun die Verdrängung, weil später, gegen größeren organischen Widerstand durchführen, einen andauernden Kampf führen, der als qualvoller Zwang zur Empfindung kommt. Am klarsten liegen diese Verhältnisse in der kulturellen Entwicklung der Harn- und Stuhlentleerung zutage. Ganz sich selbst überlassen gehen diese Funktionen beim Säugling rein spielerisch vor sich und sind infolgedessen mit der sinnlichen Lust gepaart, wie sie allen instinktiven organischen Verrichtungen zukommt. Die Einwirkungen der Umgebung genügen bei vollwertigem Organ und vollwertigem psychomotorischen Überbau, um

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/76&oldid=- (Version vom 31.7.2018)