die Funktion der Blase und des Mastdarmes auf „moralischen“ Betrieb einzurichten. Was ich diesen wichtigen Beobachtungen Freuds hinzufügen muß, ist folgendes: die Kinderfehler sind nur die äußerlich wahrnehmbaren Erscheinungen aus der bewegten Psyche und kennzeichnen den Mangel einer zureichenden Kompensation im psychomotorischen Überbau des Organes. Unter normalen Verhältnissen wird dieser Überbau beeinflußt durch die peripheren Reize der Blase, des Mastdarmes und ebenso des Auges, des Ohres, der Haut, des Ernährungs-, des Atmungsorganes, zu fortlaufendem organischen Wachstum angeregt, und diesem entspricht — bei vollwertigen Nervenbahnen — eine dem Milieu angepaßte psychische Entwicklung. Was aber das minderwertige Organ anlangt, so macht hier der Parallelismus in der psychophysischen Entwicklung recht häufig einem psychophysischen Kontrast Platz. Der psychomotorische Überbau des minderwertigen Organes führt einen kontinuierlichen Kampf gegen die Lustbetätigung und für die „moralische Mission“ des Organes. Der Erfolgt hängt von der Entwicklungsfähigkeit des ursprünglich minderwertigen Überbaues ab, von der angeborenen Wachstumsenergie der zugehörigen Großhirnzellen und von den auf dieselben wirkenden peripheren Reizen. Soll sich ein Fortschritt ergeben, so muß die ursprüngliche Minderwertigkeit der psychomotorischen Substanz eine Kompensation erfahren. Wir haben an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß diese Kompensation recht häufig zu einer Überwertigkeit des Organes führt, und müssen nun diesen Schluß dahin ergänzen: durch eine Überwertigkeit seines psychomotorischen Überbaues.
Die kompensatorische Überwertigkeit kann eine vollkommene sein, dann werden die gesteigerten psychischen und physischen Relationen und ihre Assoziationen die gesamte Psyche befruchten, aber auch charakterisieren. Von diesem Punkte aus ist ein Verständnis hervorragender und genialer Leistungen möglich, gleichzeitig ein Erfassen der Vorbedingungen, die recht häufig zu einer Berufswahl oder besonderen Liebhabereien und Eigenheiten die Grundlage abgeben. Ich habe bereits früher auf die degenerative Anlage der Ohren Mozarts, auf die Otosklerose Beethovens, auf die Stigmatisierung des Ohres Bruckners durch einen Naevus hingewiesen. Ebenso auf die Kinderfehler in der Sprachentwicklung Demosthenes’. Von Moses, dem Volksredner und Führer, wird berichtet, daß er eine „schwere Zunge“ hatte. Die halluzinatorischen Erscheinungen in Schumanns Psychose zeigen uns die Steigerungen und Überkompensationen im psychischen Überbau des Ohres an, zugleich aber wie jede Halluzination, das Mißglücken einer
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/77&oldid=- (Version vom 31.7.2018)