besonders leicht zur sexuellen Frühreife, zur Frühmasturbation führen kann.
Ist dieses entscheidende Ereignis eingetreten, dann gibt es zumindest zwei dominierende Hirnpartien, die erhöhte Wachstumsreize und einen erhöhten psychischen Antrieb erleiden, und eine von ihnen baut sich über dem minderwertigen Sexualapparat auf. Daß die beiden psychischen Felder sich assoziativ verknüpfen — ganz ähnlich wie bei audition colorée, die auch dem kompensatorischen Überbau zweier minderwertiger Organe ihre Entstehung verdankt —, ist begreiflich. So entstehen frühzeitig psychische Gruppierungen, die sich ursprünglich aus zweierlei Eindrücken gestaltet haben: einerseits aus der sexuellen Gefühls- und Begriffswelt, andrerseits aus dem psychischen Überbau von Auge, Ohr, Mund, Exkretionsorganen, Haut, Nase. In allen diesen Fällen hängt das Schicksal der Gesamtpsyche von der völligen oder unvollständigen Bewältigung und Ausgleichung zweier korrespondierender Minderwertigkeiten, der zentralen und peripheren, ab; das Schicksal des Menschen liegt dann in der vollständigen oder unvollständigen, in der andauernden oder gestörten Kompensation. Die Übersicht gestaltet sich aber schwieriger, sobald die sexuelle Komponente ins Spiel kommt und den anderen psychischen Überbau berührt und beeinflußt. Die Kompensation kann dann eine allseitige sein, sie kann sich aber auch nur in einem oder in keinem der psychomotorischen Felder ausgebildet haben. Wie sich dies im Einzelfall, bei den verschiedenen Psychoneurosen, geltend macht, haben wir hier nicht zu untersuchen. Nur muß ich erwähnen, daß die interessanten psychischen Phänomene der Verdrängung, der Ersatzbildung, der Konversion, die Freud in seinen Psychoanalysen nachwies und die ich ebenfalls als die wichtigsten Bestandteile der Psychoneurosen fand, auf der oben geschilderten Gestaltung der Psyche bei minderwertigen Organen erwachsen. Ebenso klärt sich aus obigem der regelmäßige Befund der „sexuellen Grundlage“ der Psychoneurosen auf. Die vollkommene Kompensation, die wir bei Künstlern, Genies, einzelnen Berufsmenschen finden, hat mit den Psychoneurosen viele psychische Funktionseinheiten gemeinsam und mit manchen, speziell mit der Hysterie, einen gemeinsamen Durchgangspunkt, den halluzinatorischen Charakter der Psyche.
Wie sehr unsere Auffassung von der Kompensation und Überkompensation des minderwertigen Organes mit dem Volksgeist übereinstimmt, möge folgende Darstellung aus „Grimms Deutscher Mythologie“ bezeugen:
„Wie bei den Göttern, so findet man auch bei den Helden Mangel an Gliedern: Odin ist einäugig, Tyr einhändig,
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/83&oldid=- (Version vom 31.7.2018)