Seite:Armenien und Europa. Eine Anklageschrift.pdf/197

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

bilden können, die in früherer Zeit verzehrendes Feuer vom Himmel herabgerufen hätten. Im Dorfe Begli-Akhmed traf ich eine Frau von ungefähr 28 Jahren, in elende Fetzen eines schmutzigen Teppichs gehüllt, begleitet von einem abgemagerten blassen zwölfjährigen Knaben, der einen furchtbaren Husten hatte, und wie ein typhuskrankes Kind von sechs Jahren aussah. Ich bat sie, mir ihre Geschichte zu erzählen, und sie berichtete mir folgendes: Ich heiße Atlaß Mannkiem, ich komme aus dem Dorfe Khet, es ging uns früher sehr gut, aber die Kurden nahmen uns alles was wir hatten, alles, Effendi; trotzdem arbeitete mein armer Mann immer weiter, für mich und dieses Kind hier, obgleich sie uns sagten, wir sollen machen, daß wir fortkommen. Eines Tages, als ich meinem Manne Brot auf das Feld hinausbrachte, schlugen sie mich auf den Kopf und entehrten mich. Dies geschah am Tage ... „Es war Mittag, wenn Vater sein Brot zu essen pflegte. – Da haben sie dir das angethan“, fiel das elende Kind ein. Ich habe nie in meinem Leben etwas gräßlicheres gesehen, als den Anblick der beiden Jammergestalten, wie sie zitternd in der Kälte standen und das sterbende Kind sein Zeugnis vorbrachte, daß seine Mutter auf dem Felde von Kurden geschändet worden war. –

Dann fuhr sie fort: Ich klagte bei dem Obersten Sheik Murad, aber der Bimbasche gab mir entsetzliche Schläge auf den Kopf und dann auf den Rücken und warf mich zu Boden. Dann im letzten Frühjahr, als mein Mann gerade beschäftigt war, Korn zu säen, kam Ali Mechmed auf ihn los und tötete ihn. „Mit einer Axt, Mutter“, sagte der Knabe; das Weib fuhr fort: wir sind jetzt allein in der Welt, wandern umher und betteln und niemand kennt uns. Ich gab ihr etwas Geld und eilte weg, aber vergeblich suchte ich, den furchtbaren Eindruck los zu werden, welcher mich noch wochenlang wie ein häßliches Gespenst verfolgte.

Das Blutbad von Sassun erschüttert die Herzen, auch der Gleichgiltigsten, aber jene Schlächterei war Barmherzigkeit verglichen mit den teuflischen Thaten, welche dort jede Woche und jeden Tag geschehen. Das Stöhnen hungriger Kinder, die Seufzer alter Männer, welche Dinge erleben mußten, die man nicht sagen kann, der Schrei mißhandelter Mädchen und zarter Kinder, das Jammern der Mütter, die kinderlos geworden sind durch Verbrechen, im Vergleich mit denen einfacher Mord eine Wohlthat wäre, das Wehgeheul von Frauen, die unter Peitschenschlägen

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/197&oldid=- (Version vom 31.7.2018)