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zu multiplizieren und die so gewonnene Statistik den Botschaftern zu präsentieren. Wenn auch die europäischen Berichterstatter hernach einige Nullen anhängen mußten, so floß darüber viel Wasser den Bosporus hinab, und man konnte sie dann immer noch dementieren.

Es geht weiter aus dem Botschafter-Bericht hervor, daß die türkische Regierung bei allen Nachrichten von Massacres sofort bei der Hand war, die Armenier der Provokation zu beschuldigen; und sie wird auch nicht verfehlt haben, die von allen Seiten aus den Provinzen einlaufenden Erklärungen, über deren Ursprung wir uns bereits überzeugt haben, als Beweismittel vorzulegen. Leider erwiesen nur die gleichzeitig einlaufenden Konsularberichte, daß es mit den Provokationen nichts war, und daß die schönen Geschichten von armenischen Revolten, vom Schießen in die Moscheen, von Angriffen auf Patrouillen u. s. w. sich als niederträchtige Lügen herausstellten. Aber semper aliquid haeret, selbst an Botschaftern. Und was bei den Botschaftern nicht verfing, konnte immer noch gute Dienste leisten bei Telegraphen-Agenturen, Korrespondenten von europäischen und amerikanischen Zeitungen und zur Versendung an die türkischen Botschafter in allen Ländern. Ueberdies wurde auch noch der Telegraph in Atem gehalten mit nicht endenwollenden Nachrichten über revolutionäre Komitees, armenische Geheimbünde, Mordanschläge auf türkische Paschas, das Auftauchen armenischer Agitatoren bald in Paris, bald in London, bald in Athen, bald in Konstantinopel, bald selbst in Armenien, wo immer es nötig schien. Die Hohe Pforte konnte in dieser Beziehung daheim und auswärts so viel Nachrichten erhalten, als sie nur irgend wünschte. Was war auch leichter als, wo immer drei Armenier die Köpfe zusammensteckten, ein revolutionäres Komitee auszuheben und die Delinquenten, die man zu Dutzenden in Konstantinopel auf offener Straße hängen ließ, waren ja Beweis genug für die Wahrheit aller gegen die Armenier ausposaunten Beschuldigungen. Ganz gewiß, es hat einige Revolutionäre gegeben, und es giebt noch in einigen Städten des Auslandes revolutionäre Komitees, und die menschliche Natur müßte sich verwandelt haben, wenn es sie nicht geben sollte, denn die türkische Verwaltung züchtet dieselben förmlich, und man kann sich nur darüber wundern, daß ihre Zahl so gering und ihre Handlungen so unbedeutend sind. Immerhin weiß es die türkische Regierung ihnen Dank, daß sie existieren, hat sie auch schon auf freien Fuß gesetzt,

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/61&oldid=- (Version vom 31.7.2018)