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Man kann in der That das Verhältnis der christlichen Großmächte zu der Regierung des Sultans nicht besser, als mit diesem Bilde geschieht, zum Ausdruck bringen. Der Sultan, um im Bilde zu bleiben, hat bekanntlich nicht nur eine, sondern eine ganze Zahl von Frauen in seinem Harem, nicht nur türkische, kurdische, tscherkessische, arabische, sondern auch christliche: armenische, griechische, syrische und soviel immer Nationalitäten unter seinem Scepter vereinigt sind. Gewiß, es verdrießt ihn, zu sehen, wenn neugierige Augen durch die vergitterten Fenster seines Palastes spähen, und wenn selbst die Wände desselben Ohren haben, um den häuslichen Krieg zu erkunden, und geschäftige Zungen die Geheimnisse des Palastes in alle Welt hinaustragen. Als Hausherr und Türke glaubt er das unveräußerliche Recht zu haben, seine Haremsdamen zu züchtigen, mit Füßen zu treten, einzukerkern oder auch zu erhenken, zu erdrosseln, zu ersäufen, und er verbittet sich das Mitleid einer christlichen Moral, für die sein mohammedanischer Glaube kein Organ besitzt.

Aber in civilisierten Staaten kommt es vor, daß einem brutalen Ehegatten sogar die Rechte über seine Frau beschränkt und daß den Handlungen eines Wahnsinnigen, selbst wenn sie das eigene Fleisch und Blut gefährden, durch den Arm des Gesetzes vorgebeugt wird. Wenigstens hatten sich die christlichen Großmächte seit einer geraumen Zeit von Jahren für berechtigt gehalten, solche Maßregeln dem Beherrscher der Gläubigen anzudrohen, wenn er sich nicht im eigenen Hause nach Art civilisierter Menschen betragen würde. Leider hatte es bei den Drohungen, wenn dieselben auch „im Namen des Allmächtigen“ verbrieft und versiegelt in einer Reihe von Verträgen dem Sultan übergeben wurden, sein Bewenden gehabt. Mit klugen Versprechungen hatte sich derselbe der Exekution der Verträge zu entziehen gewußt und vertraute darauf, daß die europäische Justiz, über der Schwierigkeit der Ausführung der schon längst für notwendig erachteten Maßregeln, ihm Zeit genug lassen würde, den häuslichen Krieg auf seine Weise zu beendigen. Und er hat die Frist benutzt. Als nach siebzehnjährigem Warten sich die europäische Diplomatie des einst so großartig zur Schau getragenen Mitleids mit den Opfern türkischer Barbarei in Armenien wieder erinnerte und im vorigen Jahr ihre Advokaten zum Sultan schickte, um durch Schriftsätze ohne Ende eine menschenwürdige Behandlung seiner christlichen Unterthanen zu

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/75&oldid=- (Version vom 31.7.2018)