Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. In: Der Neue Merkur 2, S. 727–737 | |
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Es gibt eine Geschichtsauffassung, die im Vertrauen auf die Unendlichkeit der Zeit nur das Tempo der Menschen und Epochen unterscheidet, die schnell oder langsam auf der Bahn des Fortschritts dahinrollen. Dem entspricht die Zusammenhanglosigkeit, mangelnde Präzision und Strenge der Forderung, die sie an die Gegenwart stellt. Die folgende Betrachtung geht dagegen auf einen bestimmten Zustand, in dem die Historie als in einem Brennpunkt gesammelt ruht, wie von jeher in den utopischen Bildern der Denker. Die Elemente des Endzustandes liegen nicht als gestaltlose Fortschrittstendenz zutage, sondern sind als gefährdetste, verrufenste und verlachte Schöpfungen und Gedanken tief in jeder Gegenwart eingebettet. Den immanenten Zustand der Vollkommenheit rein zum absoluten zu gestalten, ihn sichtbar und herrschend in der Gegenwart zu machen, ist die geschichtliche Aufgabe. Dieser Zustand ist aber nicht mit pragmatischer Schilderung von Einzelheiten (Institutionen, Sitten usw.) zu umschreiben, welcher er sich vielmehr entzieht, sondern er ist nur in seiner metaphysischen Struktur zu erfassen, wie das messianische Reich oder die französische Revolutionsidee. Die jetzige historische Bedeutung der Studenten und der Hochschule, die Form ihres Daseins in der Gegenwart, verlohnt also nur als Gleichnis, als Abbild eines höchsten, metaphysischen, Standes der Geschichte beschrieben zu werden. Nur so ist sie verständlich und möglich. Solche Schilderung ist kein Aufruf oder Manifest, die eines wie das andere wirkungslos geblieben sind, aber sie zeigt die Krisis auf, die im Wesen der Dinge liegend
Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. In: Der Neue Merkur 2, S. 727–737. Müller, München und Berlin 1915, Seite 727. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Benjamin_Das_Leben_der_Studenten.djvu/1&oldid=- (Version vom 31.7.2018)