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Auf des Glanzes Spiegel unten

Sah ich oft ein Antlitz strahlend

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Durch die grünen Zweige funkeln,

Aber nimmer steigts zum Rande.

Treulos immer ists verschwunden,
Wenn ich weisheitdurstig nahte.
Nur das Bild von Gottes Mutter

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Weilte ruhig meinen Klagen.


Und so krönt ich sie mit Blumen,
Daß, nach gleichem Preis verlangend,
Auch das schönre Bild des Brunnens
Gütger meiner Andacht achte.

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Doch noch immer muß im Durste

Ich am kalten Rande schmachten,
Möcht hinab zu einem Kusse
Stürzend mich im Tode baden.“ –

„Trage Wasser in den Brunnen“ –

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Spricht der Meister – „bis zum Rande,

Dann magst du die durstge Zunge
Bald im kühlen Spiegel laben.“ –

„Meister, was dir nie gelungen“,
Spricht Meliore, „soll ich wagen?

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Seit dem Teufel hat die Schule

Wasser in den Born getragen.

Doch des Himmels Spiegel unten
Ist noch nie heraufgewallet;
Von der Schule zu gesunden

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Will den Blick ich aufwärts schlagen.“


So sprach er im Jugendmute,

Als er fühlt der Rede Stachel.
Empfohlene Zitierweise:
Clemens Brentano: Romanzen vom Rosenkranz. Hrsg. von Alphons Maria von Steinle. Trier: Petrus-Verlag G.m.b.H., 1912, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Brentano_Romanzen_vom_Rosenkranz_034.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)