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Königin der Sternenzinne,
Priesterin verklärter Herzen,

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Lehrerin geheimer Minne,

Heldin, Trösterin der Schmerzen,

Nacht! durch deines Tempels Mitte
Sehe ich Biondetten gehen,
Scheu verhüllt in züchtger Sitte;

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Du wirst sie nicht wiedersehen.


Auf dem Platze mondbeschienen
Bleibt sie ruhig schauend stehen,
In die düsteren Ruinen
Noch einmal zurück zu sehen.

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Sie beginnet leis zu singen;

In der Nachtluft einsam Wehen
Ihre Töne sich verschlingen
Wie der Andacht schwankend Flehen.

„Herr, ich steh in deinem Frieden,

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Ob ich lebe, ob ich sterbe;

Starb mein Heiland doch hienieden,
Daß ich sein Verdienst erwerbe.

Will der Schmetterling zum Lichte,
Muß die Larve er zerbrechen,

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So hast du dies Haus vernichtet,

Meine Freiheit auszusprechen.

Laß die Flügel mich erquicken,
In der Andacht sie erstrecken,
Und zum Himmelsgarten zücken

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Durch der Buße dornge Hecken!


O, wie hast du hoch gezieret
Diese Weltnacht, mir die letzte;

Empfohlene Zitierweise:
Clemens Brentano: Romanzen vom Rosenkranz. Hrsg. von Alphons Maria von Steinle. Trier: Petrus-Verlag G.m.b.H., 1912, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Brentano_Romanzen_vom_Rosenkranz_262.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)