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Und die Augen strömen über
Der verlorenen Biondette.

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„Wo ist die, die aus der Wüste

Aufgeht, auf den Freund gelehnet?“
Spricht Meliore nun, und grüßte
Sie, nach der sein Herz sich sehnet.

„Auf dein Herz gleich einem Siegel

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War sie wahrlich doch gesetzet.

Goldne Rose, deinen Spiegel
Hat die Schlange bös verletzet.

Um den Apfelbaum sich schlingend,
Der die Mutter dir bedeckte,

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Als sie rang, zur Welt dich bringend,

Bös die Schlange mich erweckte!“

Aber traurend sitzt die Süße,
Läßt die Harfe leis erbeben,
Daß ihn schön das Leben grüße,

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Das die Liebe ihm gegeben.


Wie die Töne sich ergießen,
Fühlt die Jungfrau in dem Herzen
Wunderbaren Zauber fließen
Und so süße, wilde Schmerzen.

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Höher sie die Saiten schwinget,

Denket nicht mehr des Gesellen;
Wie der Schwan im Tode singet,
Glühend ihre Töne schwellen.

Tausend Töne, die sonst schliefen,

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Aus der Harfe lebend brechen,

Und in allen Herzenstiefen
Hört sie laut das Echo sprechen.

Empfohlene Zitierweise:
Clemens Brentano: Romanzen vom Rosenkranz. Hrsg. von Alphons Maria von Steinle. Trier: Petrus-Verlag G.m.b.H., 1912, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Brentano_Romanzen_vom_Rosenkranz_273.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)