Seite:Brentano Romanzen vom Rosenkranz 300.jpg

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„Es geschehe Gottes Wille!“
Sie ergeben vor sich sprach.

145
Und er führt sie zu Sankt Claren

Durch den Klostergarten ein,
Wo sich tausend Blumen paaren
In des neuen Tages Schein.

Vor des Kirchleins Marmorschwelle[1]

150
Sproßt der schönste Rosenstrauch

Und erfüllet die Kapelle
Mit der süßen Düfte Hauch.

Wunderbar ist er gewunden
Und geranket tausendfach,

155
Einer Schlange gleicht er unten

Und umzieht das ganze Dach.

Wo er aus der Erde dringet,
Ist er dürr und ungestalt,
Wo er höher an sich schwinget,

160
Grünt und sproßt er mit Gewalt.


Links wohl alle Rosen trauern,
Rechts sie freundlich lachend glühn,
Und es stehn des Kirchleins Mauern
Wie in Mond- und Sonnenschein.

165
Doch drei Sprossen sendet oben

Frisch der recht und linke Zweig;
Alle sechse dicht verwoben
Blühen freudig alle gleich.

Durch das Kuppelfenster schauen

170
Still sechs Rosen zum Altar,

Ihre Tränen nieder tauen
Auf Mariens Schleier klar.

Anmerkungen des Herausgebers

  1. [404] Der hier beschriebene Rosenstrauch, am Grabe der Ahnmutter Dolores wachsend, ist ein Sinnbild ihres Geschlechts: die sechs blühenden Rosen bedeuten die drei Jungfrauen, durch die die Erlösung kommt, und die drei mit ihrem Schicksal verbundenen, demselben Geschlecht entstammenden Männer.
Empfohlene Zitierweise:
Clemens Brentano: Romanzen vom Rosenkranz. Hrsg. von Alphons Maria von Steinle. Trier: Petrus-Verlag G.m.b.H., 1912, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Brentano_Romanzen_vom_Rosenkranz_300.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)