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Romanzen vom Rosenkranz/Romanze XVII: Totenmesse – Meliore und Rosablanka beichten

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Romanzen vom Rosenkranz
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[295]

Totenmesse – Meliore und Rosablanka beichten

Stille herrschet in den Straßen,
Und es rauscht ein Morgenwehn
Durch der Gärten Lustterrassen,
Wo die Blumen träumend stehn.

5
Eine Perle, eine Träne

Legt es jeder in das Herz,
Und sie wenden also schöne
Ihre Kelche sonnenwärts.

Und es wehen ihre Düfte

10
Durch die schlummerstille Stadt,

Durch die kühlen, regen Lüfte
Weht ein einsam Blütenblatt.

Und ein Vöglein aus der Linde
Flieget und das Blättlein fing,

15
Glaubt es spielend in dem Winde

Einen bunten Schmetterling.

Läßt betrogen dann es fallen
In des Springbrunns Marmorrand,
Und er spielt mit süßem Lallen

20
Mit dem süßen Frühlingstand.


Und der Vogel ohne Sorgen
Stürzet aus dem Bann der Nacht,

[296]

In den goldnen, lieben Morgen,
Der auf Turmesspitzen lacht.

25
Sonn und Vogel golden lachet

Auf dem Kreuz, das himmlisch thront,
Und es sinket überwachet
In das Licht der blasse Mond.

Durch den grauen Morgen dringet

30
Der prophetsche Hahnenschrei,

Und die Schwalbe dichtend singet
Ihres Traumes Phantasei.

Sieh, in einem frommen Blitze
Fängt das Kreuz den Sonnenschein,

35
Senkt ihn von des Turmes Spitze

In die stillen Straßen ein.

Und der Bettler, der geschlafen
Vor des Palasts Säulenkranz,
Hebt sich, da ihn Strahlen trafen,

40
Still und dreht den Rosenkranz.


Und es gehet Rosablanke
Durch das römsche Tor herein,
Eine Kerze trägt die Schlanke
Und ein Kännlein Opferwein.

45
Als sie an des Altars Stufen

Vor Biondettens Wohnung steht,
Will die Tänzerin sie rufen,
Daß sie mit zur Kirche geht.

Aber wie ward sie betroffen!

50
An dem kleinen, stillen Haus

Steht die Türe nächtlich offen:
Ging so früh die Jungfrau aus?

[297]

Nein, dann hätte sie geschlossen
Ehrbar hinter sich das Tor.

55
Und nun steigt sie unverdrossen

Zu der Kammer leis empor.

Und sie findet ganz zerrücket
Dieser Stube Ebenmaß,
An der Erde lag zerstücket

60
Manche Urne, manches Glas.


Blumen, Federn bunt zerstreuet
Und Gewänder hie und da,
Das, was gestern sie erfreuet,
Heute sie mit Schrecken sah.

65
Die zerrissnen Perlenschnüre

Säten eine Tränensaat
Zu des Schlafgemaches Türe,
Der sich Rosablanka naht.

Und sie pochet: doch die Kammer

70
Schweiget, und sie geht hinein.

Ach! Da tritt in tiefern Jammer
Noch die bange Jungfrau ein.

Weh, das Bettlein blutbeflecket,
Und zerstört das Saitenspiel!

75
Rosablanka tief erschrecket

Auf die Kniee niederfiel.

Zu dem kleinen Nonnenbilde
Rief sie unter Tränen aus:
„O, du Antlitz, ernst und milde,

80
Blut und Tod befleckt dies Haus!“


Und mit Angst und mit Entzücken
Fühlte sie, wie wundervoll

[298]

Aus des Bildes stillen Blicken
Eine helle Träne quoll.

85
Und so ganz von Angst durchdrungen

Weilt sie in dem bösen Haus,
Streckt die Hände schmerzgerungen
Zu dem Morgenlichte aus.

Wie verspätete Gespenster

90
Gaben hundert Kerzen Schein,

Tiefgebrannt, und durch die Fenster
Sah erschreckt der Tag herein,

Den die Nachtigallen grüßen
Auf des Fensters Gartenbeet,

95
Wo ihr Bauer unter süßen

Blumen eingezäunet steht.

Rosablanka geht zum Bauer,
Läßt die Sängerinnen frei:
„Flieht und sucht, wo eurer Trauer,

100
Meiner Trauer Heldin sei!


Schwinget euch zu ihrer Leiche,
Rufet ihren Mörder aus,
Daß die Rache den erreiche,
Der befleckt dies heilge Haus!“

105
Und die kleinen Vögel lenken

Zu dem Lichte erst den Flug,
Werden aber bald sich schwenken
Nach des Herzens innrem Zug,

Wie das Schiff vom Lande rauschet

110
Freudig erst ins Element

Und die freie Lust dann tauschet
Mit des Schiffers Ziel und End.

[299]

Doch nun kömmt der kleine Knabe,
Dem sie gestern am Altar

115
Teilte ihre Honigwabe,

Sprach mit seiner Stimme klar:

„Rosablanka, nicht vergesse
Über dieses Hauses Schmerz
Deiner Mutter Totenmesse,

120
Trage ins Gebet dein Herz!


Größre Trauer zu bestehen
Stehet deiner Seele vor,
Durch die Dornen mußt du gehen
Zu des Himmels Rosenflor!

125
Es verließ die kleine Zelle

Schon der treue Gottesmann,
Kerzenhell ist die Kapelle
Und der Glockenruf getan.

Zünde deine Schlangenfackel

130
An der ewgen Lampe Licht,

Sie sei vor dem Tabernakel
Des Erlösers aufgericht!“

Rosablanka spricht: „O sage
Mir, du blondes Wunderkind,

135
Ob ich die, um die ich klage,

Je im Leben wiederfind?“

Und er sprach: „Die Seele stehet
Wieder licht in Gottes Hand,
Nur der Leib, der irdisch gehet,

140
Ist dem Dunkel zugewandt!“


Und nun wendet er sich stille,
Und die Jungfrau folget nach.

[300]

„Es geschehe Gottes Wille!“
Sie ergeben vor sich sprach.

145
Und er führt sie zu Sankt Claren

Durch den Klostergarten ein,
Wo sich tausend Blumen paaren
In des neuen Tages Schein.

Vor des Kirchleins Marmorschwelle[1]

150
Sproßt der schönste Rosenstrauch

Und erfüllet die Kapelle
Mit der süßen Düfte Hauch.

Wunderbar ist er gewunden
Und geranket tausendfach,

155
Einer Schlange gleicht er unten

Und umzieht das ganze Dach.

Wo er aus der Erde dringet,
Ist er dürr und ungestalt,
Wo er höher an sich schwinget,

160
Grünt und sproßt er mit Gewalt.


Links wohl alle Rosen trauern,
Rechts sie freundlich lachend glühn,
Und es stehn des Kirchleins Mauern
Wie in Mond- und Sonnenschein.

165
Doch drei Sprossen sendet oben

Frisch der recht und linke Zweig;
Alle sechse dicht verwoben
Blühen freudig alle gleich.

Durch das Kuppelfenster schauen

170
Still sechs Rosen zum Altar,

Ihre Tränen nieder tauen
Auf Mariens Schleier klar.

[301]

Aber von den sechsen schimmert
Eine rot und eine weiß,

175
Und die dritte golden flimmert

Aus dem wunderbaren Gleiß.

Rosa mystica Maria
Heißt der heilge Rosenbund;
Virgo dulcis, clemens, pia

180
Grüßet sie des Volkes Mund.


Als die Jungfrau fromm sich neiget
Und zum Weihbrunn führt die Hand,
Wunderbar ein Anblick steiget
Auf an seinem Marmorrand.

185
Vor ihr stehn zwei geistge Nonnen,

Blicken zu ihr ernst und mild,
Reichen ihr den heilgen Bronnen;
Eine glich wohl jenem Bild.

Jene, die da stand zur Linken,

190
Wo die Rosen traurig sind,

Ließ voll Schmerz die Augen sinken,
Wie die Mutter auf das Kind.

Als die Magd von ihren Händen
Das geweihte Naß empfing,

195
Suchte sie ihr zu entwenden

Von der Hand Biondettens Ring.

Als die Jungfrau dies empfindet,
Schloß sie schreckhaft ihre Hand,
Und das Nonnenpaar verschwindet

200
Seufzend an des Brunnens Rand.


Aber in der Seele stehet
Ewig nun dies Antlitz fest,

[302]

Wo sie ruhet, wo sie gehet,
Dieses Bild sie nie verläßt.

205
Doch nun steckt sie Kosmes Kerze

An der ewgen Lampe Glut,
Will sie dann mit frommem Schmerze
Pflanzen, wo die Mutter ruht.

Doch sie findet aufgedecket

210
Der geliebten Toten Gruft,

Und: „O Jungfrau, nicht erschrecke!“
Eine Stimme zu ihr ruft.

Und es tritt der blonde Knabe,
Der sie bis hierher geführt,

215
Lächelnd aus dem offnen Grabe

Zu ihr, die sein Anblick rührt.

Denn es war, als stieg das Leben
Aus dem schweren, tiefen Tod;
Also wird ein Engel schweben

220
In dem letzten Abendrot.


Und er wird der Sonne winken,
Die dann sinket nimmermehr,
Und die Erde wird ertrinken
In des ewgen Lichtes Meer.

225
Alle Schatten werden leuchten,

Alles Dunkel wird erglühn,
Und die Welten werden beichten
Vor dem Lichte auf den Knien.

Und der Knabe sprach: „Geschauet

230
Hab ich Rosarosens Gruft,

Wo sie heut wird Gott vertrauet,
Bis der Herr uns alle ruft.

[303]

Rosatristis, die begraben
Hier mit Rosaläta steht,

235
Sie wird heut Gesellschaft haben,

Blumen, die sie ausgesät.

Schön ist diese Gruft geweitet,
Für sechs Särge ist noch Raum,
Daß die Wurzel sicher breitet,

240
Wie den Zweig, der Rosenbaum.


Vor der offnen Gruft nicht bange,
Stell vor deines Stammes Haus
Hell die Fackel; eine Schlange,
Spricht sie wohl die Sünde aus.

245
Bete! Ich muß von dir scheiden,

Denn ich führ das Kinderchor,
Um die Leiche zu begleiten,
Hier zu ihres Tempels Tor!“

Nun verließ er die Kapelle.

250
Zum Altar Benone zieht,

Ihm zu dienen auf der Schwelle
Meliore betend kniet.

Als die Jungfrau ihn erblicket,
Von der Wunde siech und bleich,

255
Fühlet sie das Herz erquicket

Und zerdrücket allzugleich.

Denn er gleicht in allen Mienen
Jenem, dem sie Rosen gab,
Als die Schlange ist erschienen

260
In dem Garten bei dem Grab.


Mit dem bei des Altars Schwelle
Morgens sie die Kränze wand,

[304]

Der den Ring bei der Kapelle
Reißen wollte von der Hand;

265
Den sie eng mit sich verbunden

Dann in heimlichem Gesicht,
Das sie tief verschweigt, gefunden;
Beten, ach! vermag sie nicht.

Neben ihr das Licht als Schlange

270
Und die offne Totengruft,

Und der Mann, macht ihr so bange,
Und der tausend Rosen Duft.

Was sie nimmer hat gefühlet,
Woget durch die keusche Brust,

275
In dem Herzen brennt und kühlet

Ihr ein Leid und eine Lust.

Immer muß sie nach ihm sehen,
Ob er nicht sein Antlitz kehrt,
Und vor Scham möcht sie vergehen,

280
Wenn er ihren Wunsch gewährt.


Und in züchtig bangen Schmerzen
Werden tausend Wünsche frei;
Ach, sie wünscht, verwirrt im Herzen,
Daß er eine Jungfrau sei.

285
Und sie möchte mit ihm gehen

In vertrauter Liebeswahl,
Möchte mit ihm niedersehen
Von dem Berge in das Tal.

Würde er wohl träumend schweigen,

290
Wenn ein Abendvogel singt?

Würde er die Hand mir reichen,
Wenn die Sonne untersinkt?

[305]

Ach, ich würde ihn verstehen,
Wüßte stets, was er gedacht,

295
Würde seine Blicke sehen,

Deckt ihn gleich die stumme Nacht.

Und wenn ewig untersänke
Mir das süße Tageslicht,
Er, den ich so herzlich denke,

300
Er versänke mir doch nicht.


Ja, er müßte mich erhalten
Mit der treuen, starken Hand,
Wollte sich die Erde spalten,
An des Abgrunds steiler Wand.

305
Halte, halte, ach ich gleite!

Doch der starre Felsenschlund
Blühet mir an deiner Seite
Wie ein duftger Wiesengrund.

Mondvoll sind die Finsternisse,

310
Eine Rose ist mein Mund,

Deine Worte werden Küsse
In dem zauberischen Bund!

Also trieb vor ihrer Sonne
Sich der Träume Wolkenflug,

315
Und in wunderbarer Wonne

Ihre Seele Wogen schlug.

Aber von der Schlangenkerze
Traf ein Funken ihre Hand,
In des Brandes scharfem Schmerze

320
Sie die Sinne wiederfand.


Bei der Gruft erschien die Kerze,
Gleich der Schlange jener Gruft,

[306]

Die heut früh zu ihrem Herzen
Zückte aus dem Rosenduft.

325
Und Meliore glich dem Manne,

Der so ernstlich warnt und sprach,
Doch mit seines Blickes Banne
Jetzt ihr krankes Herz zerbrach.

Sieh, da küßt die volle Sonne

330
Jetzt Mariens Altarbild,

Und es deckt mit Glanzeswonne
Nochmals sie der Jungfrau Schild.

Und mit kindlicher Gebärde
Senkt die Magd ihr Lockenhaupt,

335
Spricht: „Die Schlange tritt zur Erde,

Die dir deine Rosen raubt!“

Und in Tränen ganz zerschwimmend,
Fühlet sie die Gnade mild,
Dennoch in den Tränen glimmend

340
Sieht sie nur des Jünglings Bild.


Und ihr Herz, sie anzuklagen,
Ewig: „mea culpa!“ spricht,
Und sie braucht nicht dran zu schlagen,
Weil es schon in Ängsten bricht.

345
Wie sie auch die Blicke wendet,

Ihn, und immer ihn, sie sieht,
Gleicht dem Auge, das geblendet
Nie dem Sonnenfleck entflieht.

Von des Meßrocks schwarzem Grunde,

350
Zu des Kelches blankem Gold,

Zu der Kuppel Rosenrunde,
Sie die süßen Augen rollt.

[307]

Doch es war ein liebend Schweifen,
Denn sie suchte, was sie floh,

355
Floh ihn, um ihn zu ergreifen,

Und ward ihrer Sorge froh.

War sie endlich ihm entronnen,
In der Rosen Labyrinth,
Das der Kuppel Fenstersonnen

360
Wie mit einem Netz umspinnt,


Wo die süß gefangnen Strahlen
Offner Rosen Busen wiegt
Und das Licht, des Duftes Schalen,
Wie ein Schmetterling umfliegt,

365
Ist die Seele eingeträumet

In des blauen Himmels Aug,
Daß sie selig überschäumet
In des Wohlgeruches Hauch:

Sieh, da rasselt mit der Schelle

370
Meliore am Altar,

Und sie findet auf der Schwelle,
Dem sie kaum entronnen war.

Also geht des Opfers Feier
Ihr vorüber ohn Gebet,

375
Und auf ihrem Mund der Schleier

Von den heißen Seufzern weht.

Doch als sich Benone kehret:
Ite missa est!“ nun spricht,
Was so ängstlich sie beschweret,

380
Plötzlich mit ihr niederbricht.


Wie vom Taue überfüllet
Eine Blume niedersinkt

[308]

Und ihr Haupt in Staub verhüllet,
Der nun ihre Tränen trinkt,

385
Also neigt in tiefer Demut

Sie die Stirne voller Schmerz,
Und der Tränenkelch der Wehmut
Sinkt in ihr verwirrtes Herz.

Lämmlein, fromm an sonngen Hügeln,

390
Stürzt nicht an dem Wasserfall;

Vöglein, unter Mutterflügeln,
Schreckt nicht vor des Sturzes Schall!

Wo auf süß beraster Stelle
Sonst die keusche Hirtin sang,

395
Da erwühlt sich eine Quelle,

Stürzet von dem Felsenhang.

Und die Lämmer, bunt geflecket,
Stürzet nach dem Abgrund hin,
Aus dem Schlummer aufgeschrecket,

400
Hält sie nicht die Schäferin.


Hirtin, Hirtin, nach den Höhen
Lenke rettend deine Flucht,
Um der Welle zu entgehen,
Die ja selbst die Tiefe sucht!

405
Doch sie stehet schon geschürzet

In der heilgen Grotte Raum,
Und die Welle nach ihr stürzet,
Folgend ihres Mantels Saum.

Aber als sie niederknieet

410
Vor dem kleinen Felsaltar,

In der Höhle Dunkel siehet
Sie gedrängt der Lämmer Schar.

[309]

Und sie dankt dem Gnadenbilde
Ihrer Herde Rettung itzt,

415
Das auch mit dem Wunderschilde

Sie in banger Flucht geschützt.

Und sie findet auf der Schwelle
Ihren Schäferstab und Hut,
Hierher führte ihn die Welle

420
Von dem Ort, wo sie geruht,


Die nun tiefer ab sich stürzet
Von der steilen Felsenwand,
Wo der Kräuter süß Gewürze
Nun von ihr erquicket stand.

425
Und die Hirtin tritt ins Freie,

Von den Lämmern bang umdrängt,
Sieht, wie eine neue Weihe
Fels und Tal und Quell empfängt;

Wie der Quell von Felsengipfeln

430
Stürzt und springt und widerspringt,

In der Schluchten Tannenwipfeln
Sich, ein kühner Jüngling, schwingt;

Wie der Wald sich ihm erbieget
Und in manchen Arm ihn flicht,

435
Oder wie er stürmisch sieget

Und die Zweige niederbricht;

Und wie heilge Sonnenblicke
Bauen in dem Wasserschaum
Eine Regenbogenbrücke,

440
Friede sinket in den Traum.


Und der Adler, den dem Neste
Wild entstürzt die neue Flut,

[310]

Staunend ob dem heilgen Feste
Schwebend überm Bogen ruht.

445
Und es scheut ihn nicht die Taube,

Segelt aus dem Felsenspalt,
Denn ein wunderbarer Glaube
Tuet aller Welt Gewalt.

Und die Lämmer ruhig schauen

450
Von der steilen Felsenbrust,

Lassen sich das Vlies betauen
Von des Wasserfalles Lust.

Denn es waltet ein Vertrauen,
Und der Hirtin frommes Lied

455
Tönet durch die selgen Auen,

Bis die Sonne niederzieht.

Solcher Schreck traf Rosablanken,
Solche Ruh hat sie erquickt,
Als aus irdischen Gedanken

460
Sie ein tief Gebet entrückt.


Als sie wieder sich gefunden,
War schon einsam der Altar,
Und Meliore zeigt die Wunden
Seines Herzens beichtend dar.

465
An dem Beichtstuhl kniet Meliore,

In der kleinen Sakristei,
Und bekennt des Priesters Ohre,
Welcher Sünd er schuldig sei.

Und erzählt ihm die Geschichte

470
Dieser wunderbaren Nacht,

Die in einem Traumgesichte
Zu Biondetten ihn gebracht.

[311]

Daß die Wunde er empfangen,
Zeigt und fühlte seine Brust,

475
Was sonst über ihn ergangen

War ihm angstverwirrte Lust.

Und Benone hört mit Schauer
Seiner bangen Worte Hast,
Bis die Tränen seiner Trauer

480
Lindern seines Herzens Last.


Als der Jüngling lang geweinet,
Da erließ er ihm die Schuld:
„Friede, Herz! Die Sonne scheinet,“
Sprach er: „fühl des Himmels Huld!“

485
Und zur andern Seite beuget

Rosablanka nun das Knie,
Spricht: „Das Ohr, o Vater, neiget
Einer armen Sündrin hie!“

Sie bekennt ihm die Verirrung

490
Ihrer Sinne im Gebet,

Wie in seltsamer Verwirrung
Sie seit manchen Tagen geht.

Wie sie in Biondettens Kammer
Heut Verwüstung fand und Schmerz;

495
Also zeiget sie voll Jammer

Ihm das eigne kranke Herz.

Und vertraut ihm Kosmes Leiden
Und der letzten Nächte Qual,
Bittet ihn, sie zu begleiten

500
In das stille Tränental.


„Deine Schuld, mein Kind, zu büßen,“
Sprach Benone, „ist genug,

[312]

Folgst du fromm mit bloßen Füßen
Rosarosens Leichenzug.

505
Meliore wird dich leiten.

Wenn die Erde sie umschließt,
Will ich dich ins Tal begleiten,
Wo den Vater du verließst.“

Ruhig hört sie ihn und weinet,

510
Da erließ er ihr die Schuld:

„Friede, Herz! Die Sonne scheinet,“
Sprach er, „fühl des Himmels Huld!“

Nun verläßt sie die Kapelle.
An des Weihbrunns Marmorrand

515
Steht Meliore bei der Schwelle,

Reicht ihr segnend seine Hand.

Abermals die beiden Nonnen
Sieht sie stehn mit tiefem Blick,
Und sie bebt vom Weihebronnen

520
In erneuter Angst zurück.


Und sie tritt mit dem Gesellen
In den lichten Garten ein,
Und des Lebens rege Wellen
Lachen in dem Sonnenschein.

525
Und sie fühlen alle beide,

Daß sie ihre Schuld bekannt,
Gehn in Freude sich zur Seite
Durch das blumenvolle Land.

Selig, wer solch Heil gefühlet,

530
Wer die sündenvolle Brust

In der Beichte hat erkühlet,
In der Reue frommer Lust!

[313]

O unendliches Erbarmen,
Ja, ich fühle dich mir nah,

535
Auch mich trugst du in den Armen,

Daß ich Gottes Antlitz sah!

Zu der Beichte gehn die Sünder,
Schleppend eine tote Welt,
Aus der Buße wie die Kinder

540
Tummeln sich durchs Blumenfeld.


Alles wird zum Paradiese.
Mensch und Tier versöhnet sind,
Und die Blumen senden Grüße
Von dem süßen Jesuskind.

545
O, wie lacht der Garten heiter!

Funkeln nicht die Blumen schön?
Und der Himmel scheinet weiter
In der Vögel Lustgetön.

Aber sieh! Zwei Nachtigallen

550
Flattern bange um sie her,

Wo sie gehen, wo sie wallen,
Und verlassen sie nicht mehr.

Und Meliore bricht das Schweigen:
„Was bedeutet wohl, mein Knd,

555
Daß die Vögel nicht mehr weichen,

Die doch sonst nicht heimlich sind?“

Rosablanke spricht: „Die beiden
Habe ich wohl gleich erkannt,
Ach, sie klagen uns ihr Leiden,

560
Haben sich uns zugewandt.


Ihre Herrin ist verschwunden,
Heute früh gab ich sie frei;

[314]

Daß sie wieder sie gefunden,
Saget uns ihr Wehgeschrei.“

565
Daß sie von Biondetten spreche,

Wußte zwar Meliore nicht,
Doch es stürzten Tränenbäche
Von dem bleichen Angesicht.

Und sie wagt ihm nicht zu sagen,

570
Wie sie jener Kammer fand,

Denn schon hatte ihn geschlagen
Allzusehr des Schicksals Hand.

Und sie ließ die Vöglein flehen,
War sie doch wie sie gebannt,

575
In das Antlitz ihm zu sehen,

Das zur Erde er gewandt.

Meliore sprach: „Ich glaube,
Diese Vögel flehn um Schutz
Vor des wilden Geiers Raube

580
Oder böser Buben Trutz.


Laß uns ihren Flug begleiten!“ –
Ach, er kannte nicht ihr Leiden!
Und hinaus zum Garten schreiten
Ernst und ahnungsvoll die Beiden.

Anmerkungen des Herausgebers

  1. [404] Der hier beschriebene Rosenstrauch, am Grabe der Ahnmutter Dolores wachsend, ist ein Sinnbild ihres Geschlechts: die sechs blühenden Rosen bedeuten die drei Jungfrauen, durch die die Erlösung kommt, und die drei mit ihrem Schicksal verbundenen, demselben Geschlecht entstammenden Männer.
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