Romanzen vom Rosenkranz/Romanze XVIII: Biondetta ersticht sich

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[315]

Biondetta ersticht sich

„Apo, Apo, laß mich ein!“[1]
Rufet aus des Turmes Grunde
Samael, der Herr der Stunde,
Zwölfmal aus kristallnem Munde.

5
Auf und nieder in dem Turme

Steigt Apone ohne Ruhe;
Weil der König ihn besuchet,
Muß sein Haus geordnet sein;

Seine Kammer macht er rein.

10
Bibeln, Kreuze, heilger Plunder,

Aller Sprachen Vaterunser,
Lagen da seit seiner Jugend.

Zu den Stufen all hinunter
Stürzet er die heilgen Kunden,

15
Daß es in dem Turme summet,

Wie zum Brunnen plumpt der Stein.

Alles muß er tun allein,
Und er tut es unter Fluchen,
Daß der untertänge Pudel,

20
Der abwesend ist zur Stunde,


Daß der Hund im Doktorhute
Seine Kranken jetzt besuchet!

[316]

Doch die Not erhält ihn munter
Und des Geistes lautes Schrein.

25
Seine Kammer schmückt er fein.

Frauenwurz wohl vier Gebunde,
Totenblume, Hundeszunge
Legt er zierlich in die Runde.

Männlein klein von Alraunwurzel,

30
Ausgerupft im Galgengrunde

Von dem schwer verfluchten Hunde,
Setzt als Wächter er dabei.

Und ein Basiliskenei,
Kinderfinger, einzutunken,

35
All dem König zum Genusse,

Muß bei diesem Mahle prunken.

Seinen Dolch befleckt mit Blute
Stößt er in die mitte Stube;
An dem Hefte der Karfunkel

40
Soll des Mahles Fackel sein.


„Apo, Apo, laß mich ein!“
Rufet aus des Turmes Grunde
Samael, der Herr der Stunde,
Zwölfmal aus metallnem Munde.

45
Apo blickt noch zu dem Buche,

Das ihm Moles aufgefunden:
„Wo verberg ich es jetzunder
Vor dem scharfen, hellen Geist?“

Von dem Pulte er es reißt,

50
Und an einen Stab gebunden,

Steckt er es hinaus zum Turme
Durch der Kuppel offne Luke,

[317]

Daß die Blätter, in dem Sturme
Hin und her geweht, die Wunder

55
Ihres Inhalts lauf ausrufen,

In dem klaren Sternenschein.

Das könnt ihm verderblich sein;
Doch sie drehen sich so munter,
Eines geht im andern unter,

60
Und so ists, als wenn es ruhte.


Und der Geist, emporgerufen,
Schwebet leuchtend auf den Stufen,
Und des Turmes Wände funkeln,
Wo sein Silberfittig streift.

65
Schimmernd durch die Kammer schweift

Dann der Geist und spricht: „Gelungen
Ists dir, Apo, aufzuputzen
Deine Stube zum Besuche!“

An dem golden Weberstuhle

70
Sitzet Apo, und die Spule

Treibt er hin durch hell und dunkel,
Webt des Geistes Flügel ein.

„Samael, ich webe fein,“
Spricht er, „nun erst ists gelungen,

75
Da ich, Schelm, dich fest gebunden,

Nun entflieht mir nicht die Stunde!“ –

Listig hast du mich bezwungen,“
Spricht der Geist und nimmt die Spule,
„Web ich alles dir zum Wunsche,

80
Läßt du dann mich wieder frei?“ –


„Webe bis zum Hahnenschrei!
Ist dir dann das Werk gelungen,

[318]

Ist Biondetten mir errungen,
Dann sei Freiheit dir bedungen!“ –

85
„Apo, zähme deine Zunge,“

Spricht der Geist, „du mußt verstummen!
Auf die Spule sieh, und tue,
Was dir mein Gewebe zeigt!“

Apo blicket scharf und schweigt.

90
Vor ihm fliegt auf dunklem Grunde

Flammend hin und her die Spule,
Seine Sinne gehen unter.

Dunkler bald, bald wieder bunter
Woget er in Traumes Wunder,

95
Bild und Weber ist verschwunden,

Und er glaubet sich allein.

Sieh! Da springt mit blutgem Schein
Feuerschrift aus dunklem Grunde,
Und die Lettern laufen munter

100
Wie die Funken an dem Zunder.


Und Apone liest verwundert:
„Fest ist dieser Jungfrau Tugend!
An die Sünde angebunden
Sie wird uns verderblich sein.

105
Du bist blutig, sie ist rein!

Nur in Blutschuld geht sie unter,
Wenn ein Mann aus ihrem Blute,
Den sie liebt, im Arm ihr ruhte!“

Also las er, und ins Dunkel

110
Ist die Schrift dann eingesunken.

Schnell greift Apo nun zum Kruge,
Voll von giftgem Zauberwein.

[319]

Gießt ein Philtrum noch hinein,
Reißt den Dolch dann aus dem Grunde,

115
Der im Zauberrunde funkelt,

In das Gift ihn tief eintunkend.

Und erinnernd sich des Spruches,
Den er las am Weberstuhle,
Spricht er: „Was auch webt die Spule,

120
Dennoch lock ich sie herein!


Hat den Jüngling sie allein
An der Türe ruhnd gefunden,
Den ich eile zu verwunden,
Trägt sie ihn gewiß zur Stube!

125
So mag er im Arm ihr ruhen,

Und verbindend seine Wunde,
Bleiben von dem giftgen Blute
Ihre Hände nimmer rein,

Und sie wird bezaubert mein!

130
Sicher vor dem kranken Buhler

Bleibt mir ihres Leibes Blume,
Die ich selber will entwurzeln.

Las ich doch in meinem Buche,
Daß ich ihres Vaters Bruder;

135
Da sie stammt aus meinem Blute,

Sei die Lust der Blutschuld mein!“

Und er folgt dem Feuerschein,
Der noch auf den hundert Stufen
Von des Geistes Flügeln funkelt,

140
Schleichet murrend aus dem Turme.


Er umgeht das Bild des Brunnens;
Venus dominiert zur Stunde,

[320]

Und Maria tut kein Wunder
Freitag nachts im Mondenschein.

145
An Biondettens Tür allein,

In den Mantel eingewunden,
Sieht er seinen Nebenbuhler
Und versetzt ihm Todeswunden.

Als Meliore hingesunken

150
Und sein Blut das Gift getrunken,

Eilt Apone zu dem Turme.
Tat ers, war es Zauberei?

Daß er jetzt ein Mörder sei,
Hat er schwerer nicht empfunden,

155
Als den Weg zum Turm hinunter

Und hinan die hundert Stufen.

In der Kammer sitzt er dunkel;
An dem Dolche den Karfunkel
Traf ein Tropfen von dem Blute,

160
Und es starb der Edelstein.


„Mag sie nun zu Hause sein?
Ihre Türe hat geklungen!“
Und er blicket von dem Turme
Seufzend nach Biondettens Stube.

165
Auf Bologna ist die Ruhe,

Mondeskühle hingesunken,
Einsam, nächtlich von dem Turme
Nur der Totenvogel schreit.

Da springt aus der stillen Zeit

170
Ihre Stimme klangumwunden,

Kerzenhell ist ihre Stube;
Apo sieht das Liebeswunder.

[321]

Auf ihr Lager hingesunken
Liegt Meliore, heiß umschlungen

175
Von Biondetten. Apo fluchet.

„Wehe, wehe!“ schreit der Geist,

„Des Gewebes Faden reißt!“
Schreit der Geist am Weberstuhle
Und lebendig schießt die Spule,

180
Ohne Meister, ungebunden.


„Mußt du Tölpel auch da fluchen,
Da die Arbeit schier gelungen!
Rückwärts fliegt die freie Spule,
Meine Flügel werden frei!“ –

185
„Webe bis zum Hahnenschrei,“

Spricht nun Apo, „wie bedungen!“
Und er hat sich losgerungen
Und gen Morgen hingeschwungen.

Und hineilend durch die Luke,

190
Riß er gierig in dem Fluge

Aus dem sturmdurchwehten Buche
Wohl der goldnen Blätter drei.

Dann mit einem Jubelschrei
Macht er um den Turm die Runde,

195
Stürzet jauchzend mit dem Funde

Nieder dann ins nächtge Dunkel.

„Soll der Mord mir nun nicht fruchten?
Bleibt Biondette unerrungen?“
Klagt der Meister, und im Turme

200
Schlägt die Viertelglocke drei.


„Apo zählet eins bis drei:
„Wohl, die dreimal fünf Minuten

[322]

Sind mir andre noch gebunden,
Ist der Weber gleich verschwunden.“

205
Nun nimmt aus des Turmes Kuppel

Er die giftig grüne Kugel,
Öffnet sie. Ach! nackend ruhet
Drin ein wächsern Jungfräulein.

Goldner Haare süßer Schein

210
Fließt ihm von den zarten Schultern,

Türkis sind die Äuglein funkelnd,
Ein Rubin lacht auf dem Munde.

Recht für Engel ein Puppe!
Zwei Rubinen trägt der Busen,

215
Überm Herzen ihm figuret

Ist ein goldnes Röselein.

Einen roten Faden fein
Schlingt ihm Apo um den runden
Hals und stellt das kleine Wunder

220
In den Kreis zum Zauberplunder.


Und er betet still mit Murren
In des Zirkels mächtger Runde,
Zieht mit bösen Bannes Zuge
Fremde Gäste in den Kreis.

225
In das zauberische Gleis

Zieht daher, mit fremdem Schmucke,
Stolz auf des Kameles Buckel,
Sarabot, mit seinem Zuge.

Ihm folgt eine Blume, duftend,

230
Eine Taube, zärtlich murrend,

Dann, wie Sterne rein und funkelnd,
Nackt ein freundlich Geisterweib.

[323]

Klar, kristallen scheint ihr Leib;
Aus der Locken tiefem Dunkel

235
Blicken ihre Augen funkelnd,

Kalt und lachend und betrunken.

Wie der Zug um Apo rundet,
Spricht zu ihm der König murrend:
„Trocken ist mir meine Zunge,

240
Wer ists, der den Becher reicht?“


Und von dem Kamele steigt
Zürnend er, und mit dem Fuße
Stampft er, daß der Turm im Grunde
Schwanket wie ein Schiff im Sturme.

245
Und gekrümmt gleich einem Wurme

Beugt sich in des Zirkels Runde
Apo, dunkle Worte summend,
Bis das Schwanken ging vorbei.

Und mit einem lauten Schrei

250
Klagt das Geisterweib: „Mich dürstet!“

Fragt die Taube nach dem Trunke,
Sprach: „Mich dürstet!“ auch die Blume.

Und Apone sprach ermutet:
„Besser wär es, wenn ihr ruhtet,

255
Von der Eile so durchglutet

Kann der Trunk euch schädlich sein.

Saget erst, nach welchem Wein
Also heftig euch gelustet,
Daß ihr also schreien mußtet?“

260
Und sie schrieen all: „Nach Blute!“ –


„Warum hast du, böser Bube,“
Spricht der König, „mich gerufen,

[324]

Da in wenigen Minuten
Schon mein kurzes Reich vorbei?“

265
Durch das Basiliskenei

Bringet Apo sie zur Ruhe,
Und die Taube, schnabelzuckend,
Pickt die Schale schnell hinunter.

Sarabot das Weiße schlucket,

270
Und das Gelbe zum Genusse

Reicht er, nebst dem Hahnenpunkte,
Hin dem klaren Geisterweib.

Und daß nicht vergessen bleib
Auch die Zauberblume duftend,

275
Stürzet sie die Schalenkuppe

Über sie gleich einem Hute.

Apo spricht: „Es fehlt am Trunke;
Ach! ein Fäßlein süßen Blutes
Hatt ich halb heraufgewunden,

280
Als der Strick mir tückisch reißt.


Mir hat Samael, der Geist,
Nicht gehalten, was bedungen,
Hat sich los von mir gerungen
Und gen Morgen hingeschwungen!“

285
„Und wo ruht der Most jetzunder?“

Fragt der König. „Herr, er ruhet
Unter jenem kühlen Brunnen,
Wo die Sabbatgöttin weilt.

Wollt ihr trinken, o so eilt,

290
Weil er jetzo gärend sprudelt,

Da der Venusstern noch funkelt
Bis zur mitternächtgen Stunde.

[325]

Da ich wußte, was euch munde,
Hängt ich würzend zu dem Spunde

295
Von Muskaten eine Lunte,

Schwefelglühend, erst hinein!“ –

„Wohl, ich sorge für den Wein!“
Spricht der König. „Munter, munter
Sei der Strick hinabgewunden

300
Aus der Venus Lockendunkel!“


Doch es will das Weib nicht ruhen,
Weil der König heftig rupfet;
Apo gibt ihr drum die Puppe,
Daß sie spielend sich zerstreu.

305
Und sie treibet Kinderei;

Aus dem Kelch der Zauberblume
Machet sie dem Kindlein Schuhe,
Küßt sie, drückt sie an den Busen.

Doch es glänzt ihr zum Verdrusse

310
Auf dem Herz der kleinen Puppe,

Und sie riß es gern herunter,
Jenes goldne Röselein.

Und sie drückt das Herz ihm ein
Mit des Fingers hartem Drucke.

315
So beschäftigt ohne Zucken,

Dient dem Geiste sie zur Kunkel.

Und aus ihren Locken munter
Dreht den Faden er, hinunter
Trägt die Taube ihn die Stufen

320
Zu Biondettens Kämmerlein.


Dem Kamele an ein Bein
Wird der Faden angebunden,

[326]

Und dies macht so lang die Runde,
Bis der Faden aufgewunden.

325
„Ist das Fäßlein ausgetrunken,

Geb ich dir zum Eigentume
Des Getränkes schönen Brunnen!“
Spricht der König und erbleicht.

Denn schon durch die Kammer streicht

330
Bang die Taube, und es zucket

Schon der Hammer in dem Turme,
Drohend mit der zwölften Stunde.

Doch es schaukelt mit der Puppe,
Daß gewieget sie entschlummre,

335
Singt ein Lied, sie einzulullen,

Jetzt das klare Geisterweib:

„Hast du gleich kein Herz im Leib,
Hast du doch zwei ganze Schuhe.
Schlummre, schlummre, ruhe, ruhe,

340
Träume von der bunten Kuhe!


All die Bienlein, die gesummet
Zu den wunderlichen Blumen,
Belladonna, Frauenschuhe,
Um zu bilden deinen Leib,

345
Ziehen jetzt zum Zeitvertreib

In die lustge Rockenstube,
Wo die schlanken Wasserjungfern
Drüben bei dem grünen Sumpfe

An des Storches rotem Strumpfe

350
Stricken, und sie singen Wunder,

Hundert kunterbunte Wunder,
Von dem Meister Langebein.

[327]

Wie er holt die Kindlein klein
Aus dem milchgefüllten Brunnen,

355
Wie dem Mond die karge Mutter

An dem Rock stets tät zu kurze

Und ihm aus dem blauen Schurze
Nimmer ganz die Mütze rundet;
Von des Eichhorns lustgem Sturze

360
In den kalten Born hinein,


Da sein Schatz im Mondenschein
Wollte lugen in den Brunnen,
Ob sie sehe ihres Buhlen
Abbild in der Wassergrube,

365
Und um mit hineinzugucken,

Tät er bücken sich und ducken,
Fiel und mußte Wasser schlucken.
Ei, wie lief das Jungfräulein!

Schlaf, mein Püppchen, schlafe ein!

370
Herdesglut ist eingesunken,

Und das Heimchen grillt im Dunkel
Nun das Märchen von dem Funken,

Der der Köchin, die betrunken
Schlief, eh sie ihr Lied gesungen,

375
In den wüllnen Rock gesprungen

Und verbrennet ihr den Leib,

Daß sie ward gleich einem Weib;
Und wie aus dem falschen Kruge
Für den Schwulst sie Salbe suchte,

380
Auf den Besen stieg und fluchte,


Wider Will den Ritt versuchte
Zu der klugen Frauen Runde,

[328]

Wo die Hausfrau sie gefunden,
Tanzend um den Bock den Reihn.

385
Als sie christlich wollte schrein,

Fiel sie durch den Schlot herunter;
Morgens saß sie ganz berußet
In der heißen Aschengruben;

Und die Schornsteinfegerbuben

390
Singen ihr: „Aus unsrer Schule

Schwatzte heut mit dir dein Buhle,
Doch sein Besen fegt nicht rein!“

„Mutter, es soll Wahrheit sein!“
Sprach sogleich ein schwarzer Junge,

395
Der mit einem kühnen Sprunge

Aus der Schürze kam gesprungen!

Schlummre, süßes Püppchen, schlummre,
Bist du dumm, es gibt noch Dummre,
Bist du stumm, es gibt noch Stummre,

400
Schlummre, schlummre, Püppchen, ein!


Bald miau! Die Katzen schrein,
Machen Diebs- und Liebesrunde,
Brünstig, günstig ist die Stunde,
Zu dem Mondmann heulen Hunde.

405
Sieh! Dort auf dem Wiesengrunde

Tanzen jetzt die Elfen munter
Unterm Knabenkraut hinunter,
Das die Blätter niederstreut.

Kind, sie spielen Lotto heut,

410
Schreiben auf die Blättchen Nummern,

Und du darfst nur kühnlich schlummern,
Denn dir kommt dein Glück im Schlummer.

[329]

Du gewinnst die beste Nummer,
Eine Braut wirst du im Schlummer,

415
Und dich wecket ohne Kummer

Hochzeit, Hochzeit, hohe Zeit!

Mondschein deckt dein Bettlein breit,
Tu dich zu dem Bräutgam ducken,
Wenn die Wichtlein Jubel rufend

420
Auf den Stufen ihre Krucken


Brechen, durch die Ritzen gucken
Und zum Schlüsselloch einschlupfen:
Wenn sie an der Decke zupfen,
Strecke nur heraus kein Bein!

425
Ei, die Nacht ist wunderfein!

Vor der Kröt auf hohem Stuhle
Singen Frosch und Unk im Pfuhle,
Eine heilge Judenschule.

Und der Irrwisch hüpft betrunken,

430
Wo der Musikant versunken;

Brünstig glühn Johannisfunken,
Wo jüngst fiel ein Jungfräulein,

Als ihr Buhl ihr stellt ein Bein
Und ihr Kränzlein ohn Vermuten

435
Fiel in eines Schatzes Gluten,

Der im Acker eingetruhet

Blank zu ihren Füßen ruhet.
Heim trug sie den Schatz zur Stunde,
Schwerer war noch viele Pfunde

440
Ihr lebendger Edelstein.


Schlaf, mein Püppchen, schlafe ein!“
Also hat das Weib gesungen

[330]

Mit verwirrter, süßer Zunge,
Und der Zauber ist gelungen. –

445
Denn Biondette, schlummertrunken,

Folgt des Zauberfadens Zuge,
Geht zur Linde, und am Brunnen
Liegt vor ihr ein Knabe fein.

„Jungfrau, ach, erbarm dich sein!“

450
Spricht sie, legt den kleinen Buben

Auf des Altars höchste Stufe,
Wo sie einst auch ward gefunden.

„Bleibe unten, bleibe unten,
Bete erst ein Vaterunser!“

455
Hört sie jetzt den Knaben rufen,

Doch sie soll verloren sein.

Und sie zieht zum Turm hinein,
Steigt hinan die dunklen Stufen;
Immer schwächer hört sie rufen:

460
„Bleibe unten, bleibe unten!“


Bis die Stimme ganz verschwunden;
Und Biondette, traumumwunden,
Steiget jetzt die letzte Stufe,
Gehet zu dem Mahl hinein.

465
Rosablankens Nadel fein,

Um die sie das Haar gewunden,
Zieht sie aus dem Lockenbunde,
Die ihr golden niederfluten.

Nächtlich bloß den keuschen Busen,

470
Tritt sie an die Zauberspuren,

Und von ihrem Herzen funkelt
Hell das goldne Röselein.

[331]

„Muß ich denn verloren sein?
O Maria, Gottes Mutter,

475
Der ich einstens ward gefunden,

In die Windeln eingewunden,

Denke meiner frommen Stunden,
Lasse sterbend mich gesunden!“
Lallt sie, peinlich traumumwunden,

480
Zu der reinen Seele Heil.


„Sei gegrüßt, du Todespfeil,
Sei gegrüßt mit reinem Munde,
Der nie freche Lust getrunken,
Keuscher Tod in keuscher Wunde!

485
Flieh, du letzte sündge Stunde!

Märtyrkrone sei errungen!“
Dann ruft sie mit kühner Zunge:
„O Maria, erbarm dich mein!“

Und die goldne Nadel fein

490
Stößt sie in den reinen Busen

Durch die goldne Rosenblume,
Sinket nieder, heilig blutend.

Und es schlägt die zwölfte Stunde.
„Weh, zu spät ists zu dem Trunke!“

495
Schreit der König, und geht unter.

Anmerkungen des Herausgebers

  1. [404] Der Geisterapparat dieser Romanze ist entnommen Kornmanns Mons Beneris. (Frankfurt a. M., 1614, S. 137.)
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