Seite:Brentano Romanzen vom Rosenkranz 305.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Ach, ich würde ihn verstehen,
Wüßte stets, was er gedacht,

295
Würde seine Blicke sehen,

Deckt ihn gleich die stumme Nacht.

Und wenn ewig untersänke
Mir das süße Tageslicht,
Er, den ich so herzlich denke,

300
Er versänke mir doch nicht.


Ja, er müßte mich erhalten
Mit der treuen, starken Hand,
Wollte sich die Erde spalten,
An des Abgrunds steiler Wand.

305
Halte, halte, ach ich gleite!

Doch der starre Felsenschlund
Blühet mir an deiner Seite
Wie ein duftger Wiesengrund.

Mondvoll sind die Finsternisse,

310
Eine Rose ist mein Mund,

Deine Worte werden Küsse
In dem zauberischen Bund!

Also trieb vor ihrer Sonne
Sich der Träume Wolkenflug,

315
Und in wunderbarer Wonne

Ihre Seele Wogen schlug.

Aber von der Schlangenkerze
Traf ein Funken ihre Hand,
In des Brandes scharfem Schmerze

320
Sie die Sinne wiederfand.


Bei der Gruft erschien die Kerze,
Gleich der Schlange jener Gruft,

Empfohlene Zitierweise:
Clemens Brentano: Romanzen vom Rosenkranz. Hrsg. von Alphons Maria von Steinle. Trier: Petrus-Verlag G.m.b.H., 1912, Seite 305. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Brentano_Romanzen_vom_Rosenkranz_305.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)