Seite:Brentano Romanzen vom Rosenkranz 306.jpg

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Die heut früh zu ihrem Herzen
Zückte aus dem Rosenduft.

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Und Meliore glich dem Manne,

Der so ernstlich warnt und sprach,
Doch mit seines Blickes Banne
Jetzt ihr krankes Herz zerbrach.

Sieh, da küßt die volle Sonne

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Jetzt Mariens Altarbild,

Und es deckt mit Glanzeswonne
Nochmals sie der Jungfrau Schild.

Und mit kindlicher Gebärde
Senkt die Magd ihr Lockenhaupt,

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Spricht: „Die Schlange tritt zur Erde,

Die dir deine Rosen raubt!“

Und in Tränen ganz zerschwimmend,
Fühlet sie die Gnade mild,
Dennoch in den Tränen glimmend

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Sieht sie nur des Jünglings Bild.


Und ihr Herz, sie anzuklagen,
Ewig: „mea culpa!“ spricht,
Und sie braucht nicht dran zu schlagen,
Weil es schon in Ängsten bricht.

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Wie sie auch die Blicke wendet,

Ihn, und immer ihn, sie sieht,
Gleicht dem Auge, das geblendet
Nie dem Sonnenfleck entflieht.

Von des Meßrocks schwarzem Grunde,

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Zu des Kelches blankem Gold,

Zu der Kuppel Rosenrunde,
Sie die süßen Augen rollt.

Empfohlene Zitierweise:
Clemens Brentano: Romanzen vom Rosenkranz. Hrsg. von Alphons Maria von Steinle. Trier: Petrus-Verlag G.m.b.H., 1912, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Brentano_Romanzen_vom_Rosenkranz_306.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)