Seite:Brentano Romanzen vom Rosenkranz 308.jpg

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Und ihr Haupt in Staub verhüllet,
Der nun ihre Tränen trinkt,

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Also neigt in tiefer Demut

Sie die Stirne voller Schmerz,
Und der Tränenkelch der Wehmut
Sinkt in ihr verwirrtes Herz.

Lämmlein, fromm an sonngen Hügeln,

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Stürzt nicht an dem Wasserfall;

Vöglein, unter Mutterflügeln,
Schreckt nicht vor des Sturzes Schall!

Wo auf süß beraster Stelle
Sonst die keusche Hirtin sang,

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Da erwühlt sich eine Quelle,

Stürzet von dem Felsenhang.

Und die Lämmer, bunt geflecket,
Stürzet nach dem Abgrund hin,
Aus dem Schlummer aufgeschrecket,

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Hält sie nicht die Schäferin.


Hirtin, Hirtin, nach den Höhen
Lenke rettend deine Flucht,
Um der Welle zu entgehen,
Die ja selbst die Tiefe sucht!

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Doch sie stehet schon geschürzet

In der heilgen Grotte Raum,
Und die Welle nach ihr stürzet,
Folgend ihres Mantels Saum.

Aber als sie niederknieet

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Vor dem kleinen Felsaltar,

In der Höhle Dunkel siehet
Sie gedrängt der Lämmer Schar.

Empfohlene Zitierweise:
Clemens Brentano: Romanzen vom Rosenkranz. Hrsg. von Alphons Maria von Steinle. Trier: Petrus-Verlag G.m.b.H., 1912, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Brentano_Romanzen_vom_Rosenkranz_308.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)