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Mit verwirrter, süßer Zunge,
Und der Zauber ist gelungen. –

445
Denn Biondette, schlummertrunken,

Folgt des Zauberfadens Zuge,
Geht zur Linde, und am Brunnen
Liegt vor ihr ein Knabe fein.

„Jungfrau, ach, erbarm dich sein!“

450
Spricht sie, legt den kleinen Buben

Auf des Altars höchste Stufe,
Wo sie einst auch ward gefunden.

„Bleibe unten, bleibe unten,
Bete erst ein Vaterunser!“

455
Hört sie jetzt den Knaben rufen,

Doch sie soll verloren sein.

Und sie zieht zum Turm hinein,
Steigt hinan die dunklen Stufen;
Immer schwächer hört sie rufen:

460
„Bleibe unten, bleibe unten!“


Bis die Stimme ganz verschwunden;
Und Biondette, traumumwunden,
Steiget jetzt die letzte Stufe,
Gehet zu dem Mahl hinein.

465
Rosablankens Nadel fein,

Um die sie das Haar gewunden,
Zieht sie aus dem Lockenbunde,
Die ihr golden niederfluten.

Nächtlich bloß den keuschen Busen,

470
Tritt sie an die Zauberspuren,

Und von ihrem Herzen funkelt
Hell das goldne Röselein.

Empfohlene Zitierweise:
Clemens Brentano: Romanzen vom Rosenkranz. Hrsg. von Alphons Maria von Steinle. Trier: Petrus-Verlag G.m.b.H., 1912, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Brentano_Romanzen_vom_Rosenkranz_330.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)