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dass eine dieser Antilopen ihrer Hörner mit Erfolg sogar gegen einen Löwen benutzt hat. Weil sie aber gezwungen ist, den Kopf zwischen die Vorderbeine zu bringen, um die Spitzen ihrer Hörner nach vorwärts gerichtet zu halten, so wird sie sich meist in grossem Nachtheile finden, wenn sie von irgend einem anderen Thiere angegriffen wird. Es ist daher nicht wahrscheinlich, dass die Hörner zu ihrer jetzigen grossen Länge und eigenthümlichen Stellung zum Zwecke des Schutzes gegen Raubthiere gebracht worden sind. Wir können indessen sehen, dass, sobald irgend ein alter männlicher Urerzeuger des Oryx mässig lange und ein wenig nach rückwärts geneigte Hörner erlangt hatte, er in seinen Kämpfen mit Nebenbuhlern gezwungen gewesen sein wird, seinen Kopf etwas nach innen und abwärts zu beugen, wie es jetzt gewisse Hirsche thun, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass er dabei auch die Gewohnheit, zuerst gelegentlich und später regelmässig niederzuknien, erlangt haben kann. In diesem Falle ist es beinahe sicher, dass diejenigen Männchen, welche die längsten Hörner besassen, einen grossen Vortheil vor den anderen, mit kürzeren Hörnern voraus gehabt haben werden, und dann werden die Hörner durch geschlechtliche Zuchtwahl allmählich immer länger und länger geworden sein, bis sie ihre jetzige ausserordentliche Länge und Stellung erreichten.

Bei Hirschen vieler Arten bietet das Verzweigen des Geweihes einen merkwürdigen Fall von Schwierigkeit dar, denn sicher würde eine einfache gerade Spitze eine viel ernstlichere Wunde beibringen, als mehrere auseinandergehende Spitzen. In Sir Philipp Egerton’s Museum findet sich ein Geweih des Edelhirsches (Cervus elaphus) dreissig Zoll lang mit „nicht weniger als fünfzehn Enden oder Zweigen“; und zu Moritzburg ist noch jetzt das Geweihepaar eines Edelhirsches aufgehoben, welchen im Jahre 1699 Friedrich I. schoss, von denen die linke Stange die erstaunliche Zahl von dreiunddreissig Enden, die rechte siebenundzwanzig, das ganze Geweihe also sechzig Enden trug. Richardson bildet ein Geweihe des wilden Renthiers mit neunundzwanzig Enden ab.[1] Nach der Art und Weise, in welcher das Geweihe verzweigt ist, und noch besonders weil man weiss, dass


  1. Owen, über das Geweihe des Edelhirsches, in seinen British Fossil Mammals, 1846, p. 478. Richardson, über das Geweihe des Renthiers in seiner Fauna Bor. Americana, 1829, p. 240. Ich verdanke Prof. Victor Carus die Angaben über den Moritzburger Hirsch.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, II. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch2.djvu/249&oldid=- (Version vom 31.7.2018)