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diesen Umständen werden ohne Zweifel die Frauen das Vermögen der Wahl haben und werden die anziehenderen Männer vorziehen. So beschreibt z. B. Azara, mit welcher Sorgfalt ein Guanaweib um alle möglichen Privilegien handelt, ehe sie irgend einen oder mehrere Männer annimmt; und die Männer verwenden in Folge hiervon auch ungewöhnliche Sorgfalt auf ihre persönliche Erscheinung. So können bei den Todas in Indien, welche Polyandrie ausüben, die Mädchen jeden Mann entweder annehmen oder zurückweisen.[1] Ein sehr hässlicher Mann wird in derartigen Fällen vielleicht durchaus nicht dazu kommen, ein Weib zu erlangen, oder er bekommt es erst spät im Leben: und doch werden die schöneren Männer, obschon die erfolgreichsten im Erlangen von Weibern, soweit wir sehen können, nicht mehr Nachkommen hinterlassen, ihre Schönheit zu erben, als die weniger schönen Ehegatten derselben Frauen.

Frühe Verlobungen und Sclaverei der Frauen. – Bei vielen Wilden besteht der Gebrauch, die Frauen schon als blosse Kinder zu verloben; und dies wird in einer wirksamen Weise verhüten, dass irgend ein Vorziehen von beiden Seiten in Bezug auf persönliche Erscheinung geltend gemacht werden kann. Es wird aber nicht verhindern, dass die anziehenderen Frauen später von den kraftvolleren Männern ihren Ehegatten gestohlen oder mit Gewalt entführt werden; und dies ereignet sich häufig in Australien, America und anderen Theilen der Welt. Diese selben Folgen in Bezug auf geschlechtliche Zuchtwahl werden in einer gewissen Ausdehnung eintreten, wenn die Frauen fast ausschliesslich als Sclaven oder Lastthiere geschätzt werden, wie es bei vielen Wilden der Fall ist. Indessen werden die Männer zu allen Zeiten die schönsten Sclavinnen nach ihrem Maassstabe von Schönheit vorziehen.

Wir sehen hiernach, dass verschiedene Gebräuche bei Wilden herrschen, welche die Wirksamkeit der geschlechtlichen Zuchtwahl bedeutend stören oder vollständig aufheben können. Auf der anderen Seite sind die Lebensbedingungen, welchen die Wilden ausgesetzt sind, und einige ihrer Lebensgewohnheiten der natürlichen Zuchtwahl günstig; und diese kommt gleichzeitig mit geschlechtlicher Zuchtwahl in’s Spiel. Man weiss, dass Wilde sehr heftig von wiederkehrenden


  1. Voyages etc. Tom. II, p. 92–95. Colonel Marshall, „Amongst the Todas', p. 212.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, II. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 345. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch2.djvu/359&oldid=- (Version vom 31.7.2018)