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Hungersnöthen zu leiden haben; sie vermehren ihre Nahrungsmengen nicht durch künstliche Mittel; sie enthalten sich nur selten der Verheirathung[1] und heirathen allgemein jung. In Folge dessen müssen sie gelegentlich harten Kämpfen um die Existenz ausgesetzt sein, und nur die begünstigten Individuen werden leben bleiben.

In einer sehr frühen Zeit, ehe der Mensch seine jetzige Stellung in der Stufenreihe erlangt hatte, werden viele der Verhältnisse, in denen er lebte, verschieden von denen gewesen sein, welche jetzt bei Wilden zu treffen sind. Nach Analogie mit niederen Thieren zu urtheilen, wird er damals entweder mit einem einzigen Weibe oder als Polygamist gelebt haben. Die kraftvollsten und fähigsten Männer werden beim Gewinnen anziehender Frauen den besten Erfolg gehabt haben. Sie werden auch in dem allgemeinen Kampfe um’s Dasein und in der Vertheidigung sowohl ihrer Frauen als auch ihrer Nachkommen gegen Feinde aller Arten den besten Erfolg gehabt haben. In dieser frühen Zeit werden die Urerzeuger des Menschen in ihrer Intelligenz noch nicht hinreichend vorgeschritten gewesen sein, um vorwärts auf in der Zukunft möglicherweise eintretende Ereignisse geblickt zu haben; sie werden noch nicht vorausgesehen haben, dass das Aufziehen aller ihrer Kinder, besonders der weiblichen, den Kampf um’s Dasein für den Stamm nur noch schwerer machen würde. Sie werden sich mehr durch ihre Instincte und weniger durch ihre Vernunft haben leiten lassen, als es die Wilden heutigen Tages thun. Sie werden in jener Zeit nicht einen der stärksten von allen Instincten, welcher allen niederen Thieren gemein ist, nämlich die Liebe zu ihren jungen Nachkommen, theilweise verloren haben, und in Folge dessen werden sie Mädchentödtung nicht ausgeübt haben. Es wird keine Seltenheit von Frauen dadurch eingetreten sein, und es wird Polyandrie nicht ausgeübt worden sein; denn wohl kaum irgend eine andere Ursache, mit Ausnahme der Seltenheit der Frauen, scheint hinreichend mächtig zu sein, das natürliche und weit verbreitete Gefühl der Eifersucht und den Wunsch eines jeden Mannes, eine Frau für sich zu besitzen, zu überwinden. Polyandrie dürfte eine natürliche Stufe zum Auftreten communaler


  1. Burchell sagt (Travels in South Africa, Vol. II. 1824, p. 58), dass unter den wilden Nationen von Süd-Africa weder Männer noch Frauen jemals im Stande des Cölibats ihr Leben hinbringen. Azara macht (Voyages dans l’Amérique mérid. Tom. II. 1809, p. 21) genau dieselbe Bemerkung in Bezug auf die wilden Indianer von Süd-America.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, II. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 346. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch2.djvu/360&oldid=- (Version vom 31.7.2018)