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auf alle nur mögliche Weise. Ohne Zweifel wird auch ein Mensch mit trägem Geiste, wenn seine sociale Zuneigung und Sympathien gut entwickelt sind, zu guten Handlungen geführt werden und kann ein ziemlich empfindliches Gewissen haben. Was aber nur immer die Einbildungskraft des Menschen lebhafter macht und die Gewohnheit, vergangene Eindrücke sich zurückzurufen und zu vergleichen, kräftigt, wird auch das Gewissen empfindlicher machen und kann selbst in einem gewissen Grade schwache sociale Zuneigungen und Sympathien ausgleichen und ersetzen.

Die moralische Natur des Menschen hat ihre jetzige Höhe zum Theil durch die Fortschritte der Verstandeskräfte und folglich einer gerechten öffentlichen Meinung erreicht, besonders aber dadurch, dass die Sympathien weicher oder durch die Wirkungen der Gewohnheit, des Beispiels, des Unterrichts und des Nachdenkens weiter verbreitet worden sind. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass tugendhafte Neigungen nach langer Uebung vererbt werden. Bei den civilisirteren Rassen hat die Ueberzeugung von der Existenz einer Alles sehenden Gottheit einen mächtigen Einfluss auf den Fortschritt der Moralität gehabt. Schliesslich betrachtet der Mensch nicht länger das Lob oder den Tadel seiner Mitmenschen als seinen hauptsächlichsten Leiter, obschon Wenige sich diesem Einfluss zu entziehen vermögen, sondern seine gewohnheitsgemässen Ueberzeugungen bieten ihm unter der Controle der Vernunft die sicherste Richtschnur. Sein Gewissen wird dann sein oberster Richter und Warner. Nichtsdestoweniger liegt die erste Begründung oder der Ursprung des moralischen Gefühls in den socialen Instincten, mit Einschluss der Sympathie; und diese Instincte wurden ohne Zweifel ursprünglich wie bei den niederen Thieren durch natürliche Zuchtwahl erlangt.


Der Glaube an Gott ist häufig nicht bloss als der grösste, sondern als der vollständigste aller Unterschiede zwischen den Menschen und den niederen Thieren vorgebracht worden. Wie wir indessen gesehen haben, ist es unmöglich zu behaupten, dass dieser Glaube beim Menschen angeboren oder instinctiv sei. Andererseits scheint ein Glaube an Alles durchdringende, spirituelle Kräfte allgemein zu sein und scheint eine Folge eines beträchtlichen Fortschritts in der Kraft der Ueberlegung des Menschen und eines noch grösseren Fortschritts in den Fähigkeiten der Einbildung, der Neugierde und des Bewunderns zu sein. Ich weiss sehr wohl, dass der vermeintliche instinctive Glaube an Gott von vielen Personen als Beweismittel für das Dasein Gottes selbst benutzt worden ist.

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, II. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 371. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch2.djvu/385&oldid=- (Version vom 31.7.2018)