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Franz Pforr: Das Buch Sulamith und Maria. In: Der Wagen 1927, S. 51–58

DAS BUCH SULAMITH UND MARIA VON FRANZ PFORR

„Ganz ihrem idealen Sinn und dem herrschenden romantischen Geist entsprechend hatten die beiden unzertrennlichen Freunde (Overbeck und Pforr) unter sich eine Allegorie ersonnen, in welcher sie ihrer Kunstrichtung und ihren individuellen Neigungen Ausdruck zu geben wünschten. Zunächst gaben sie sich Phantasienamen: Pforr pflegte in vertraulicher Correspondenz Overbeck bei seinem ersten bedeutungsvollen Taufnamen Johannes anzureden, während er selbst Albrecht Mainstädter hieß, indem er von seinem höchsten Vorbild, Albrecht Dürer, den Taufnamen, von seiner Vaterstadt am Main aber den Zunamen entlehnte. Sodann kam Overbeck auf den Gedanken, es sollte jeder für den andern ein Bild malen, in welchem die wesentliche Schönheit und der Charakter der jedem eigentümlichen Kunstweise zur Erscheinung kommen müßte; dieselben könnten, meinte er, ganz wohl durch zwei Frauengestalten, als Repräsentanten der beiden von ihnen erwählten „Arten der Malerei“, dargestellt werden. Die Idee fand bei Pforr Anklang und wurde in seinem fruchtbar geschäftigen Kopfe alsbald weiter entwickelt. Er war mit Leib und Seele der alten deutschen Kunst aus Dürers Zeit ergeben, welche ihn als schlicht und anspruchslos, aber tief und wahr, vor allen ansprach. Sein Freund war hingegen der Anmut, dem Reichtum und der Lieblichkeit italienischer Kunst zugeneigt. Pforr dachte sich die Erkorne seines geliebten Johannes in Schmuck und duftumwobener Herrlichkeit (Sulamith). Im Unterschied davon trug seine Braut den Charakter bescheidener, stiller, heimeliger Traulichkeit; und kaum hatte er mit dem Entwürfe einer Allegorie begonnen, so gewann unter der ausführenden Hand seine symbolische Figur der deutschen Kunst die Gestalt, den Ausdruck und selbst das Gewand eines lieblichen, blondhaarigen Mädchens, das er einmal in häuslicher Beschäftigung, in rotem Kleid und weißer Schürze waltend, gesehen und nicht vergessen konnte (Maria). Diese zwei Bilder sind Denkmale zärtlicher Jugendfreundschaft und brüderlich edler Kunstgenossenschaft. Sie sind die Frucht ihrer heimlichsten Gedanken und Gespräche, und mit dem kleinen Erläuterungsbüchlein, welches Pforr zu ihrem Geleit geschrieben, führen sie uns so recht in ihr Seelenleben ein.“

Margaret Howitt.     


1. Kapitel.

Es war ein frommer Mann mit Namen Joseph, der lebte schon vierzehn Jahre mit seiner Ehegenossin in Friede und Glück, denn der Herr hatte ihn gesegnet an zeitlichen Gütern, so daß es ihnen an nichts gebrach, außer einem, das ihnen Leid machte, so oft sie daran dachten. Der Herr hatte nämlich ihnen keine Kinder gegeben, so oft sie auch darum beteten und Almosen gaben. Da sprach Joseph zu seinem Weibe Elisabeth: Was der Herr tut, das ist wohlgetan, und ihm sei Dank und Preis für alles. Da sprach das Weib: Amen, also ist es. Aber es geschah über ein kleines, daß es sich fand, daß Elisabeth schwanger war; da freuten sich beide nicht wenig, und der Mann sprach: Gelobet sei der Herr, unser Väter Gott. Er straft, aber nicht allezeit, Er verbirgt sein Angesicht, aber nur eine Weile; Er hat angesehen unser Gebet und unsere Prüfung hinweggenommen. Als aber die Stunde des Gebärens kam, geschah es, daß Elisabeth so übel lag, daß man sich ihres Lebens verzieh. Da wollte Joseph vor Schmerz das Herz zerspringen, und er ging beiseite und nahm die Bibel, um Trost zu suchen, und er schlug sie auf, vermochte aber vor allzu großer Betrübnis nicht zu lesen, sondern gedachte seines ehemaligen Glückes mit dem Weibe seiner Jugend. Als er sich aber faßte, trafen seine Augen auf die Stelle des Hohen Liedes Salomonis: Kehre wieder, kehre wieder, o Sulamith; kehre wieder, kehre wieder, daß wir dich schauen. Da sprach er bei sich selbst: Jawohl, kehre wieder, meine ehemalige Ruhe und Lust. Siehe, da kam die Wehemutter und sprach: Freuet Euch, denn ein Töchterlein ist Euch geboren. Da sprach er: Dies soll Sulamith genannt werden, denn durch es ist mein Unglück gewendet worden. Und da die Wehemutter ihn hieß verziehen eine Weile, schlug er die Bibel um und fand die Stelle im heiligen Evangelisten Lukas, wo geschrieben steht: Und im sechsten Monat ward der Engel Gabriel gesandt von Gott in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth, zu einer Jungfrau, die vertraut war einem Manne mit Namen Joseph vom Hause Davids, und die Jungfrau hieß Maria. Siehe, da kam abermals die Wehemutter und sprach: Euer Weib ist noch von einem zweiten Mägdlein entbunden. Da sprach der Mann: So will ich es Maria nennen, denn der Herr hat auch seinen Engel hierher gesandt, mich zu segnen. Und die Kinder wuchsen auf in Gottesfurcht und Frömmigkeit, und wurden weit umher keine gefunden, die ihnen gleich waren an Schönheit und Zucht.


2. Kapitel.

Zu der Zeit war aber ein König im Lande, der tat, was dem Herrn wohlgefiel, und wandelte in allen Wegen nach seinen Geboten, und seine Gemahlin tat desgleichen und ward genannt eine Mutter aller Bedürftigen und Armen. Nun wurde sie verehrt von jedermänniglich nach Würden; allein ihr war doch die Freude des Lebens versagt, und alle Lust achtete sie gering. Es begab sich aber eines Tages, daß die beiden Schwestern Sulamith und Maria vor der Türe ihrer Eltern Hauses saßen, als die Königin auf ihrem Wagen vorbeifuhr. Sie erfreute

Empfohlene Zitierweise:
Franz Pforr: Das Buch Sulamith und Maria. In: Der Wagen 1927, S. 51–58. Otto Quitzow, Lübeck 1926, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Buch_Sulamith_und_Maria.pdf/1&oldid=- (Version vom 30.6.2018)