Seite:Das Geheimnis eines Lebens.pdf/7

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

in dem tiefen Sessel. Und jetzt, wo Karl Wieland in dem hellen Tageslicht ihr verweintes Gesicht sah, schrak er beinahe zusammen, so sehr hatten die Sorgen der letzten Tage die frische Farbe aus den sonst so liebreizenden Zügen verdrängt. Um die dunklen Augen lagerten tiefe Schatten, und ein ungesundes Grau um den schöngezeichneten Mund ließ die kaum Vierundzwanzigjährige um ein Jahrzehnt gealtert erscheinen. Da beugte er sich über sie und drückte einen leisen Kuß auf ihre Stirn.

„Mut, Liebling! Dreßler ist ja auf allen Gebieten beschlagen, warum sollte er uns nicht auch in dieser Sache raten können!“

Der Privatgelehrte Dr. phil. Hans Dreßler bewohnte seit zwei Jahren Haustor Nr. 16 die erste Etage. – Erste Etage klingt recht großartig. Wer aber die schmalen Häuser da unten am Ende der Dämme kennt, weiß, daß die meisten Wohnungen dort nur aus zwei, höchstens drei mittelgroßen Zimmern bestehen. Dreßlers erste Etage bestand aus Küche, Nebengelaß, Entree und zwei Zimmern, gehörte also zu der bescheidensten Sorte jener Behausungen. Trotzdem fühlte sich der Besitzer dieser Räume in ihnen mehr als wohl. Allerdings in der letzten Zeit, seitdem sein Verkehr mit Wieland immer reger geworden war, wollte es ihn bisweilen doch nicht mehr so ganz in seinem Junggesellenheim gefallen. Oft genug hatte er es sich in einsamen Stunden ausgemalt, wie anders seine Häuslichkeit aussehen könnte, wenn – ja, wenn die blonde Anna Wieland als Hausfrau darin schalten würde. – Bei dem Gedanken war’s aber vorläufig geblieben. Denn dem Doktor, der sich mit seinen sechsunddreißig Jahren schon uralt vorkam, dünkte es beinahe ein Verbrechen, der kaum zwanzigjährigen Schwester des Freundes seine Zuneigung irgendwie zu zeigen. So war er denn jetzt schon ein langes Jahr bei Wielands ein- und ausgegangen, ohne daß er in seinen Zukunftsträumen über das erwähnte „Würde“ irgendwie hinausgekommen wäre. Und sicherlich mußte schon etwas Besonderes geschehen,

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Das Geheimnis eines Lebens. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Geheimnis_eines_Lebens.pdf/7&oldid=- (Version vom 31.7.2018)