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Platte z. B. ist eine Vielheit von Abzügen möglich; die Frage nach dem echten Abzug hat keinen Sinn. In dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik.


V


Die Rezeption von Kunstwerken erfolgt mit verschiedenen Akzenten, unter denen sich zwei polare herausheben. Der eine dieser Akzente liegt auf dem Kultwert, der andere auf dem Ausstellungswert des Kunstwerkes.[1][2] Die künstlerische Produktion

  1. Diese Polarität kann in der Ästhetik des Idealismus, dessen Begriff der Schönheit sie im Grunde als eine ungeschiedene umschließt (demgemäß als eine geschiedene ausschließt) nicht zu ihrem Rechte gelangen. Immerhin meldet sie sich bei Hegel so deutlich an, wie dies in den Schranken des Idealismus denkbar ist. »Bilder«, so heißt es in den Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, »hatte man schon lange: die Frömmigkeit bedurfte ihrer schon früh für ihre Andacht, aber sie brauchte keine schönen Bilder, ja diese waren ihr sogar störend. Im schönen Bilde ist auch ein Äußerliches vorhanden, aber insofern es schön ist, spricht der Geist desselben den Menschen an; in jener Andacht aber ist das Verhältniß zu einem Dinge wesentlich, denn sie ist selbst nur ein geistloses Verdumpfen der Seele … Die schöne Kunst ist … in der Kirche selbst entstanden, … obgleich … die Kunst schon aus dem Principe der [483] Kirche herausgetreten ist.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten. Bd. 9: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Hrsg. von Eduard Gans. Berlin 1837, p. 414.) Auch eine Stelle in den Vorlesungen über die Ästhetik weist darauf hin, daß Hegel hier ein Problem gespürt hat. »… wir sind«, so heißt es in diesen Vorlesungen, »darüber hinaus Werke der Kunst göttlich verehren und sie anbeten zu können, der Eindruck, den sie machen, ist besonnenerer Art, und was durch sie in uns erregt wird, bedarf noch eines höheren Prüfsteins«. (Hegel, l. c. Bd. 10: Vorlesungen über die Aesthetik. Hrsg. von H. G. Hotho. Bd. 1. Berlin 1835, p. 14.)
  2. [483] Der Übergang von der ersten Art der künstlerischen Rezeption zur zweiten bestimmt den geschichtlichen Verlauf der künstlerischen Rezeption überhaupt. Demungeachtet läßt sich ein gewisses Oszillieren zwischen jenen beiden polaren Rezeptionsarten prinzipiell für jedes einzelne Kunstwerk aufweisen. So zum Beispiel für die Sixtinische Madonna. Seit Hubert Grimmes Untersuchung weiß man, daß die Sixtinische Madonna ursprünglich für Ausstellungszwecke gemalt war. Grimme erhielt den Anstoß zu seinen Forschungen durch die Frage: Was soll die Holzleiste im Vordergrunde des Bildes, auf die sich die beiden Putten stützen? Wie konnte, so fragte Grimme weiter, ein Raffael dazu kommen, den Himmel mit einem Paar Portieren auszustatten? Die Untersuchung ergab, daß die Sixtinische Madonna anläßlich der öffentlichen Aufbahrung des Papstes Sixtus in Auftrag gegeben worden war. Die Aufbahrung der Päpste fand in einer bestimmten Seitenkapelle der Peterskirche statt. Auf dem Sarge ruhend war, im nischenartigen Hintergrunde dieser Kapelle, bei der feierlichen Aufbahrung Raffaels Bild angebracht worden. Was Raffael auf diesem Bilde darstellt ist, wie aus dem Hintergrunde der mit grünen Portieren abgegrenzten Nische die Madonna sich in Wolken dem päpstlichen Sarge nähert. Bei der Totenfeier für Sixtus fand ein hervorragender Ausstellungswert von Raffaels Bild seine Verwendung. Einige Zeit danach kam es auf den Hochaltar in der Klosterkirche der Schwarzen Mönche zu Piacenza. Der Grund dieses Exils liegt im römischen Ritual. Das römische Ritual untersagt, Bilder, die bei Bestattungsfeierlichkeiten ausgestellt worden sind, dem Kult auf dem Hochaltar zuzuführen. Raffaels Werk war durch diese Vorschrift in gewissen Grenzen entwertet. Um dennoch einen entsprechenden Preis dafür zu erzielen, entschloß sich die Kurie, ihre stillschweigende Duldung des Bilds auf dem Hochaltar in den Kauf zu geben. Um Aufsehen zu vermeiden, ließ man das Bild an die Bruderschaft der entlegenen Provinzstadt gehen.