Berechnungen zu gründen; doch ist auch klar, daß die Sicherheit solcher Berechnungen sehr wesentlich davon abhängen muß, inwieweit das Bild, welches wir uns von den Naturvorgängen machen, sich diesen wirklich anpaßt. Stellen wir uns, wie es in ältester Zeit geschah, die Erde vor als eine große Scheibe überdeckt von dem Himmelsgewölbe, an welchem Sonne und Sterne, nach deren Lauf wir die Zeit bestimmen, auf- und untergehen, so werden wir bald Differenzen der Zeitbestimmungen erhalten, wenn wir uns einer einmal nach der Sonne regulierten Uhr bedienen und diese von Ort zu Ort mit uns führen. Eine schöne Illustration bildet die verlorene und schließlich wegen der Zeitdifferenz doch gewonnene Wette in Jules Verne’s Reise um die Welt in 80 Tagen!
Auch die Vorstellung, die am Himmelsgewölbe gesehenen Vorgänge fänden gleichzeitig statt, ist ein großer Irrtum bezüglich der Zeit. Wir sehen, weil das Licht zur Fortpflanzung Zeit braucht, die Sonne nicht so wie sie ist, sondern wie sie vor 8 Minuten war, den Sirius so wie er vor ıo Jahren war, die entferntesten Fixsterne so wie sie vor 5000–7000 Jahren waren.
Völlig zuverlässig scheint die Bestimmung einer Stoffmenge mit Hilfe der Wage. Gäbe es nur eine Art Stoff, so brauchten wir dieselbe überhaupt nicht; es würde genügen anzugeben, wieviel das Volumen des Stoffes in Kubikmetern beträgt. Doch schon bei Heu oder Baumwolle ist die Stoffmenge im Kubikmeter sehr verschieden, je nachdem das Material lose oder zusammengepreßt ist. Das Gewicht, d. h. die Kraft, mit welcher es von der Erde angezogen wird, bleibt aber stets das gleiche, wir vermuten deshalb, das Gewicht sei das richtige Maß der Stoffmenge oder »Masse«. Da 1 cbm Blei etwa 11mal soviel wiegt als 1 cbm Holz, sagen wir die Dichte von Blei sei die 11fache von derjenigen des Holzes. – Könnte dies aber nicht daher rühren, daß Blei bei gleicher Stoffmenge 11mal stärker von der Erde angezogen wird als Holz? Dieser Meinung, es gebe Stoffe, die weniger als andere angezogen werden oder gar nicht (kalte Luft) oder die gar abgestoßen werden (heiße Luft), die Anziehung entspreche also nicht immer der Masse, war noch Aristoteles, jener bekannte Lehrer Alexanders des Großen, welcher 347—393 im Lyzeum in Athen dozierte und das erste Lehrbuch der Physik schrieb, das sehr lange z. B. in unserem physikalischen Institut (damals in Durlach) noch bis 1674 in Gebrauch war.
Otto Lehmann: Das Relativitätsprinzip der neue Fundamentalsatz der Physik. Verhandlungen des Naturwissenschaftlichen Vereins in Karlsruhe, Bd. 23 (1909-1910), Karlsruhe 1911, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Relativit%C3%A4tsprinzip_(Lehmann).djvu/3&oldid=- (Version vom 2.10.2024)