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mächtigen Heims der großen Dichterin. Vor den Fenstern zog sich ein Balkon hin, und dort stand ein Mensch, ein Mann, halb zusammengeduckt. Der matte Lichtschein zeigte mir einen verregneten Velourhut, einen hochgeklappten Ulsterkragen und ein besonnenes Profil mit sehr gerader Nase und blondem Spitzbart.

Dieser Herr störte mich. Er paßte nicht in mein Programm hinein. Wenn er stehlen wollte und wenn er sich dabei ungeschickt benahm, konnte das auch für mich unangenehme Folgen haben.

Jeder ist sich selbst der Nächste. Zumal nach acht Monaten Freiquartier im Staatshotel. Ich begann an dem eisernen Träger des Balkons emporzuklettern. Daß der Mann mich nicht hörte, dafür sorgte der Wind und der Regen und ein Katzenpaar in den nahen Büschen. Als ich den Kopf über die Balkonbrüstung hob, stand der eine Flügel der Fenstertür halb offen, und der Herr war verschwunden. Ich war zu spät gekommen und mußte die beabsichtigte Aussprache mit dem Fremden, der fraglos der Faust des einstigen Amateurmeisters des Boxklubs „King Tor“ nicht gewachsen gewesen wäre, vorläufig aufgeben.

Umkehren etwa?! – Nein, denn das wäre gleichbedeutend mit freiwilliger Rückkehr ins Hotel Düsterburg gewesen. – Vor der halboffenen Tür hing innen ein Vorhang. Er bewegte sich leicht hin und her, und als ich ihn nun ein wenig zur Seite schob, erblickte ich links in einem weißlackierten, geschnitzten Bett eine blonde junge Frau aufrecht sitzen und mit beiden Händen eine blauseidene Steppdecke gegen die Brust pressen. Ihr Gesicht lag im Schatten, da die kippbare Nachttischlampe mit gelbem Trichterschirm so gedreht

Empfohlene Zitierweise:
Max Schraut: Das tote Hirn. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1930, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_tote_Hirn.pdf/11&oldid=- (Version vom 31.7.2018)