Aufbau der Theorie der Zahlkörper eine sichere und stetige Entwickelung getreten.
Es kommt endlich hinzu, daß, wenn ich nicht irre, überhaupt die moderne Entwicklung der reinen Mathematik vornehmlich unter dem Zeichen der Zahl geschieht: Dedekind und Weierstrass’ Definitionen der arithmetischen Grundbegriffe und Cantors allgemeine Zahlgebilde führen zu einer Arithmetisierung der Funktionentheorie und dienen zur Durchführung des Prinzips, daß auch in der Funktionentheorie eine Tatsache erst dann als bewiesen gilt, wenn sie in letzter Instanz auf Beziehungen für ganze rationale Zahlen zurückgeführt worden ist. Die Arithmetisierung der Geometrie vollzieht sich durch die modernen Untersuchungen über Nicht-Euklidische Geometrie, in denen es sich um einen streng logischen Aufbau derselben und um die möglichst direkte und völlig einwandfreie Einführung der Zahl in die Geometrie handelt.
Der Zweck des vorliegenden Berichtes ist es, die Tatsachen aus der Theorie der algebraischen Zahlkörper mit ihren Beweisgründen in logischer Entwickelung und nach einheitlichen Gesichtspunkten darzustellen und so mitzuwirken, daß der Zeitpunkt näher komme, wo die Errungenschaften unserer großen Klassiker der Zahlentheorie Gemeingut aller Mathematiker geworden sind. Historische Erörterungen oder gar Prioritätsuntersuchungen sind ganz vermieden worden. Um die Darstellung auf einem verhältnismäßig so kleinen Raum zu ermöglichen, habe ich mich bemüht, überall den ergiebigsten Quellen nachzuspüren, und ich gab, wenn eine Auswahl sich bot, allemal den schärferen und weiter tragenden Hilfsmitteln den Vorzug. Die Frage, welcher von mehreren Beweisen der einfachste und naturgemäßeste ist, läßt sich meist nicht an sich entscheiden, sondern erst die Erwägung, ob die dabei zugrunde gelegten Prinzipien der Verallgemeinerung fähig und zur Weiterforschung brauchbar sind, gibt uns eine sichere Antwort.
Der erste Teil des Berichtes behandelt die allgemeine Theorie der algebraischen Zahlkörper; diese Theorie erscheint uns als ein mächtiger Bau, getragen von drei Grundpfeilern: dem Satze von der eindeutigen Zerlegung in Primideale, dem Satze von der Existenz der Einheiten und dem Satze von der transzendenten Bestimmung der Klassenanzahl. Der zweite Teil enthält die Theorie des Galoisschen Zahlkörper, in der auch umgekehrt die Gesetze der allgemeinen Körpertheorie enthalten sind. Der dritte Teil ist dem klassischen Beispiel des quadratischen Körpers gewidmet. Der vierte Teil behandelt den Kreiskörper. Der fünfte Teil endlich entwickelt die Theorie desjenigen Körpers, den Kummer bei seinen Untersuchungen über höhere Reziprozitätsgesetze zugrunde gelegt hat, und den ich deshalb nach diesem Mathematiker benannt habe. Es ist die Theorie dieses Kummerschen Körpers offenbar auf der Höhe des heutigen arithmetischen Wissens die äußerste erreichte Spitze, und man übersieht von ihr aus in weitem Rundblick das ganze durchforschte Gebiet,
David Hilbert: David Hilbert Gesammelte Abhandlungen Erster Band – Zahlentheorie. Julius Springer, Göttingen 1932, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:David_Hilbert_Gesammelte_Abhandlungen_Bd_1.djvu/83&oldid=- (Version vom 31.7.2018)