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Rabenstein in die Tasche zu schaffen. Dies ist aber der Rabenstein, und auf folgende Weise wird er gewonnen:


Die Raben Krähen Adler und andre solche Vögel, welche scharfe Schnäbel und Klauen haben und von Gott auf den Raub angewiesen sind, sagen die Leute, werden sehr alt und leben wohl zweihundert und dreihundert Jahre, also viel länger als die ältesten Menschen. Wenn nun ein Rabenpaar hundert Winter mit einander gelebt und geheckt hat, dann legt es erst den Rabenstein, und, wie sie sagen, alle zehn Winter einen neuen Stein. Dieser Rabenstein soll nach der Sage aus den Augen der Diebe herauswachsen, welche die Raben am Galgen ausgehackt haben; und das müssen die Raben an vielen hundert Dieben gethan haben, ehe sie einen solchen Wunderstein legen können. Er ist von der Größe einer Wälschen Nuß oder eines Rabeneies, ganz rund und glatt und feurigroth wie ein Karfunkelstein; und die Raben legen ihn in der letzten Nacht des Hornungs: denn noch im Winter legen sie ihre Eier und im ersten Frühling, wann es noch reist und friert, haben sie schon befiederte Jungen. Es hat aber dieser grausige Wunderstein zwei Eigenschaften: die erste, daß er in der Nacht leuchtet wie eine Sonne und alles umher hell, seinen Träger aber unsichtbar macht, so daß sich herrlich mit ihm stehlen läßt: die zweite, daß er zu Galgen und Rad hinlockt.

Wer einen Rabenstein suchen und fangen will, der muß in die hohen Forsten suchen gehen, wo die großen himmelhohen Bäume stehen; denn auf den schlanksten und schiersten Fichten Eschen und Buchen, welche der gewandteste

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Ernst Moritz Arndt: Mährchen und Jugenderinnerungen/Zweiter Theil. Berlin 1843, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Arndt_M%C3%A4hrchen_2_350.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)