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Mährchen und Jugenderinnerungen/Zweiter Theil

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Textdaten
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Autor: Ernst Moritz Arndt
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Titel: Mährchen und Jugenderinnerungen. Zweiter Theil.
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Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1843
Verlag: G. Reimer
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
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[I]

Mährchen
und
Jugenderinnerungen


von
E. M. Arndt.


Zweiter Theil.


Mit 6 Kupfern.


Berlin, 1843.
Druck und Verlag von G. Reimer.


[II]



[III]

An Adelheid.

Du erinnerst Dich wohl, geliebtes Kind, wie oft ich Dich als mein freundliches blauäugiges Muserömchen auf den Knieen geschaukelt und Mährchen herausgeschaukelt und herausgeschüttelt habe. Unterdeß sind dreißig Jahre vergangen: ich bin ein alter weißer Mann und Du bist eine gar stattliche Frau geworden.

Hier lege ich einige der alten Mährchen und Leuschen auf Deinen lieben Schooß, welche Du nun Deinen Kindern erzählen kannst. Sie haben über zwei Jahrzehende als aufgerolltes Papier geschlafen und sollen nun durch Deinen [IV] Bruder Georg lebendig gemacht werden. Sie werden Dich alter fröhlicher Zeiten und alter Liebe erinnern, und als ein Liebesgruß und Liebesschuß an und auf Dein liebes Herz wollen sie allerdings vor Dir erscheinen. Sie werden Dein Herz finden und treffen.

Nun lebe wohl! und gedenke des Alten, der nicht lange mehr irdische Mährchen erzählen wird, in alter Freundlichkeit.


[V]

Dies Büchlein bedarf keiner Vorrede. Nur in Hinsicht der in plattdeutscher Sprache geschriebenen Mährchen und Erzählungen müssen gleichsam zur Einleitung und Erklärung einige Worte gesagt werden.

Bekanntlich wird diese altsächsische Mundart längs den Küsten der Ostsee, in Holstein Mecklenburg Insel Rügen Vorpommern etwa acht Meilen südlich über die Peene hinaus, (also gleichsam in partibus Infidelium, wo sie im elften zwölften Jahrhundert zum Theil nur durch Einwanderer eingeführt worden) und im nördlichen Westfalen zwischen der Elbe und der Weser, jetzt am richtigsten und reinsten gesprochen, das heißt: wie sie laut Urkunden im dreizehnten vierzehnten Jahrhundert in den Landen der alten Sachsen und Ost- und West-Falen gebraucht worden ist. Sie hat auch vorzüglich in den bezeichneten Gebieten längs der Ostsee die Eigenschaft der Stattlichkeit und Männlichkeit der Töne am tüchtigsten bewahrt. Denn bekannt ist, daß diese Mundart gern mit einer gewissen halbtönigen und [VI] reiten Bequemlichkeit, welche dem Karakter der Zähigkeit Bedenklichkeit und Ruhigkeit des Volkes angemessen ist, auslautet, und daß sie die Fülle und Macht der Töne gern zerquetscht und zerschleift. Diese breite Bequemlichkeit, die man eigentlich Maul-Faulheit schelten muß, nimmt vom Norden nach dem Süden hin absteigend immer mehr zu, so daß in vielen Landschaften des südlichen Westfalens den plattdeutschen Menschen beinah dasselbe Unglück begegnet, welches den Dänen widerfahren ist, daß sie durch Zerquetschung und Zerschleifung der Mitlauter eine kraftlose und marklose Sprache sprechen, welcher gleichsam die Knochen der Kraft zerbrochen sind.

Die Neigung zu jener angedeuteten Bequemlichkeit und Faulheit herrscht nun freilich mehr oder weniger in der ganzen Mundart oder vielmehr in dem Karakter des sie sprechenden Volkes vor und erzeugt eine Menge zum Theil ungehöriger Zusammenziehungen, auch Auswerfungen einzelner Mitlauter, doch näher der Ostsee und Nordsee viel weniger als gegen Süden, gleichsam als habe das Meer seine Anwohner mit einigen Klängen seiner Macht und Kraft durchhaucht und durchtönt.

Die Schreibung dieser Sprache hat ihre besonderen ganz eigenen Schwierigkeiten, erstens schon, weil sie jetzt wenig geschrieben wird und also dafür kein [VII] fester Gebrauch besteht, zweitens wegen der vielen Halbtöne, in welchen sie sich, ihrer Tochter, der englischen Sprache, darin fast ähnlich, ergeht, und welche gar nicht geschrieben werden können.

Natürlich hat es mir nicht glücken können, diese Schwierigkeiten zu überwinden und ihnen leidlich abzuhelfen; und man wird in diesem Buche häufig die größte Verschiedenheit treffen, wo dasselbe Wort bald mit dem tiefen bald mit dem hohen Ton, bald mehr nach seiner Aussprache bald mehr nach seiner Abstammung sich geschrieben und bezeichnet findet. Ich habe das zum Theil mit Absicht und Willkür gethan, indem in gar nicht fern von einander liegenden Kirchspielen hier wirklich oft die mannigfaltigste Verschiedenheit herrscht, wo dasselbe Wort in dem einen ei und in dem andern i (z. B. vier veir), in dem einen u und in dem andern au (Fru Frau, Ruh Rauh), in dem einen e in dem andern i tönt (steht steiht, eenzig einzig, Snee Snei, Perd Pird, ehrlich ihrlich, gistern gestern, mehr mihr, gern girn, vörfeerd vörfierd).

Der einzige Halbton, der bestimmter zu fassen und zu schreiben ist, liegt in der Mitte zwischen o und a, und dieser ist mit dem kleinen o über dem a fast immer von mir angedeutet.

Der zweite hauptsächliche und eben so häufige ja [VIII] wirklich noch häufiger vorkommende Halbton ist der zwischen dem e und i, viel feiner und unbestimmter als der erste, und deswegen ein unschreiblicher, wie er in der englischen und schwedischen Sprache auch sehr gewöhnlich ist – ein so feiner Ton, daß er, durch das augenblickliche wechselnde Gefühl des Sprechenden bestimmt, bald mehr ins i bald mehr ins e geht.

Die Buchstaben, welche in dieser Mundart in vielen Wörtern am meisten verschliffen und in gemeiner geschwinder Rede kaum mit einem leisesten Durchklang gehört werden, sind die Buchstaben r und d.

Man hört zum Beispiel in den Wörtern Wurd (Wort) wurd würd ward meistens nur Wud wudd wüdd wadd. – Man hört in Underdhan besünders vörwundert holden bald Händ Hund (die Mehrzahl von Hand Hund) fast nur Underdhan besünners vörwunnert hollen bal Hännnn Hunnnn. Und zwar tönt das d am Ende (in der Mehrzahl) solcher Wörter, wie Händ Hund (die Hände die Hunde) so langsam und so ganz in dem n weg, als wenn für Ein n drei auf der Zunge leise erstürben.

Ich habe nun diese Wörter, wo r und d fast wenig oder gar nicht lauten, gewöhnlich nicht nach der gemeinen üblichen Aussprache sondern nach ihrer Abstammung (d. h. mit etymologischer Rücksicht) geschrieben, [IX] und habe doch in der Weise des Volks, die Sprache zu gebrauchen, meinen guten Grund dazu gehabt. Denn – man höre! – das ist hier das Eigenthümliche:

1) Bei lebendigeren Gefühlen und heftigeren Gemüthsbewegungen, z. B. im Zorn, brauchen die Leute fast immer die schweren tiefen Töne statt der leichten und hohen – dann sagen sie Frau Rauh geiht sleiht veir Doiwel für Fru Ruh geht sleht (schlägt) vier Düwel.

2) in feierlicherer und ernsterer Stimmung bei’m Sprechen oder Erzählen gebrauchen sie auch die ordentlichere vollere Tönung und sprechen aus besünders ward bald Händ für besünners wadd bal Häññ.

Dies wird in lebendiger und ernster Gemüthsstimmung auch auf den plattdeutschen Dativ (ich meine hier vorzüglich den Dativ der Einzahl weiblichen Geschlechts) ausgedehnt, der in gemeiner Rede selten vom Akkusativ unterschieden wird. Man sagt gewöhnlich giff de Fru Brot, gah to de Stadt, bewis mit de Dhad; das heißt das dativische r weiblichen Geschlechts fällt aus. So wie aber das Gefühl des Sprechenden sich steigert, sagt er giff der Fru, gah to der (tor) Stadt, bewis mit der Dhad. Ich habe im Schreiben meistens die regelrechte Form gebraucht. [X] Eben so habe ich es häufig hinsichtlich des Genitivs gehalten, doch zwischen den Formen wechselnd, z. B. so: de Föt van dem Voss, dem Voss sine Föt, des Vosses Föt. Diese letzte dem Hochdeutschen nähere Form gebrauchen die Leute fast immer in feierlicher Rede oder in einer Erzählung, die was bedeuten soll, auch die allerungebildetsten, so daß es nicht bloß aus der Schule stammt.

Diese wenigen Bemerkungen zu einigem Verständniß und zu Verständigung. Mehr würde hier nicht an seiner Stelle seyn.

Geschrieben zu Bonn im Lenzmond 1843.



[XI]

Inhalt.