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In der Allee auf der gewohnten Bank saß Toni. Sie trug eine weiße Seidenbluse, einen goldenen Gürtel und zuviel Rosen auf dem Hut. Ihr Gesicht war erhitzt und die Augen gerötet.

„Du hast geweint?“ fragte ich.

Sie fuhr mit dem Handrücken über die Augen und machte ein böses Gesicht.

„Ich warte so lange,“ sagte sie – „ich dachte, Sie kommen nicht.“

„Ah – das ist’s! Na also gehen wir.“ Toni erhob sich und nahm meinen Arm, sicher, ein wenig rauh. Sie nahm von mir Besitz, als von ihrem Sonntagsrecht. Sie gefiel mir heute nicht besonders. Schweigend gingen wir die Allee hinab. Auf einer Bank saß ein Mädchen mit einer hellen Bluse und zuviel Blumen auf dem Hut.

„Die weint auch“, sagte ich.

Da wurde Toni beredt: „Nu ja. Die Woche plagt man sich und freut sich auf den Sonntag und zieht sich seine guten Sachen an und dann kommt er nicht“ –

„Ja – ja, das ist unrecht“, sagte ich. Wie verständlich das war. Die Liebe ist hier so klar – eine Einrichtung – ein Recht.

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Keyserling: Seine Liebeserfahrung. In: Bunte Herzen. Fischer, Berlin 1909, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Bunte_Herzen_(Keyserling).djvu/212&oldid=- (Version vom 31.7.2018)