bleichsüchtigen Lippen und Wangen blühende
Rosenfarbe verleiht, auf Liköre und Zuckerwerk,
die an Stelle von Wasser und Brot getreten sind,
auf das Leben bei Nacht im Glanze des neuen
Gaslichts, das uns die Sonne vergessen machte.
Und sie verordnen keine bitteren Mixturen mehr,
sondern – Natur: kaltes Wasser, frische Luft,
schwarzes Landbrot, saures Obst, Leibesübungen,
Morgenspaziergänge. Die Königin und ihre Damen
zeigten sich zuerst als willfährige Patienten;
ganz Paris folgt ihrem Beispiel. Die Kavaliere
werden nicht mehr zum Lever im parfümierten
Boudoir empfangen, sondern zum Spaziergang im
taufrischen Garten. Und bei den Wanderungen
zwischen den knospenden Alleen Trianons, über
den smaragdgrünen Rasen, den bunte Krokus
und gelbe Narzissen mit ihren leuchtenden Farben
durchziehen, liebt es die Königin Geschichten
à la Marmontel zu hören. Es müssen aber,
wie wir als Kinder zu sagen pflegten, „wirkliche“
Geschichten sein. Welche hätte den Wünschen der
hohen Frau besser entsprechen können, als die Ihre?
Unter den eben aufblühenden Syringen erzählte
ich von der kleinen süßen Klosterschülerin; vor
den rosa Tulpenbeeten schilderte ich die ach so
stolze Schloßfrau von Froberg; auf der weißen
Bank zwischen den Oleanderbäumen sprach ich
von der geistvollen Königin der Straßburger Feste;
und als wir an der Schäferhütte unter den hellgrünen
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/133&oldid=- (Version vom 22.6.2020)