Endlich! Sie hatten mich, teuerste Marquise, durch Ihr monatelanges Schweigen auf die Folter gespannt. Stellten Sie Ihre Freunde schon durch Ihre fluchtartige Abreise vor ein Rätsel, wie viel mehr durch Ihr völliges Verstummen. Die abenteuerlichsten Gerüchte trug man einander zu: daß Sie mit einem Liebhaber entflohen seien; daß Sie sich in ein Kloster zurückgezogen hätten. Schließlich verschwand Ihr Name aus der Chronique scandaleuse; die sturmbewegten Wellen unserer raschlebigen Zeit peitschten darüber hinweg; nur wer sich selbst noch nicht ganz verliert, dem blieben auch Sie unverloren.
Haben Sie Dank, wärmsten Dank, daß Sie in Ihrem Kummer meiner gedachten. Sie gaben mir damit den kostbarsten Beweis Ihrer Freundschaft. Nur daß Sie über ein Jahr stumm gelitten haben, mache ich Ihnen zum Vorwurf, nicht, weil ich Ihr Vertrauen teile, der Einzige zu sein, der zu helfen vermag, sondern weil die Aussprache an sich schon Erleichterung bedeutet. Es ist eine der wertvollsten Errungenschaften unsrer Epoche, daß wir unsere eigenen Gedanken denken, unsere eigene Sprache sprechen lernten.
Sie haben sich, wie Sie schreiben, ganz Ihrem Sohn gewidmet, nachdem Sie ihn durch „einen
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/201&oldid=- (Version vom 31.7.2018)