weiß nicht einmal, ob ich mich freuen darf, daß ich ihn endlich doch erhielt. Er ist kurz und kühl; ich würde darnach glauben, daß nur die Höflichkeit ihn diktiert hat, wenn er nicht so viel Fragen als Sätze enthielte, – Fragen, die sichtlich nicht bloßer Neugierde entstammen, sondern hinter denen eine Empfindung lauert, wie geheime Angst.
Kein Zweifel, die Zeiten sind ernst, Frau Marquise. Aber meine Reise von Spa nach Paris, die mich über die Kohlengruben von Anzin und Fresnes geführt hat, ließ mich schaudernd erkennen, für wen sie wahrhaft ernst sind: ich sah Kinder, sah werdende Mütter in den schwarzen Erdhöhlen, und das im Zeitalter Rousseaus! Ich sah Aufseher mit der Peitsche hinter ihnen, und das im Zeitalter der Befreiung Amerikas! Wer diesen Eindruck mit sich nimmt, lächelt geringschätzig über die Klagen jener „Notleidenden“, die heute in seidenen Westen mit Diamantboutons in den Vorzimmern der Minister über die schlechten Zeiten jammern. Sind sie nicht selbst daran Schuld, daß die Landarbeiter dem Frondienst auf ihren Gütern sogar die Arbeit unter der Erde vorziehen?
Wenn man Ihnen die Finanzpolitik Herrn Neckers als Ursache der allgemeinen Bedrängnis angab, so hat man Sie falsch berichtet. Er ist unschuldig – im Guten, wie im Bösen. Seine Einschränkungen des königlichen Haushalts treffen
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/266&oldid=- (Version vom 31.7.2018)